Yayoi Kusama: Punktlandung

Yayoi Kusama: Narcissus Garden, 1966, courtesy David Zwirner Gallery

Weil sie sich auf ihre labile Weltwahrnehmung nicht verlassen konnte, schuf Yayoi Kusama ihren eigenen Kosmos aus Punkten, Netzen, Happenings und psychedelischen Objekten. Ihr Mut und ihr visionärer Eigensinn haben die 92-Jährige zu einer der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart gemacht.

Text: Michael Kohler / ART 03/2021

An einem Sonntag im Januar 1967 gab es vor der berühmten New Yorker St. Patrick’s-Kathedrale eine etwas andere Prozession. Während in der Kirche die Messe gehalten wurde, zog sich draußen eine Gruppe junger Frauen und Männer aus und verbrannte vor einer stetig wachsenden Menschenmenge US-amerikanische Nationalfahnen. Eine mit einer Art Gymnastikanzug bekleidete Frau warf Bibeln und Wehrdienstkarten in die aufsteigenden Flammen, dann umarmten sich die Teilnehmer des Happenings, und einige begannen, sich öffentlich zu lieben. Die Reaktionen des Publikums waren geteilt. Die einen jubilierten, die anderen schrien: Gotteslästerung. Zu Letzteren gesellte sich die herbeigerufene Polizei und löste das Antikriegsfestival der Liebe auf.

Als Yayoi Kusama ihr Body Paint Festival im Herzen des katholischen Amerika inszenierte, war sie in der Avantgarde-Kunstszene bereits berühmt. Die Ende der fünfziger Jahre nach New York ausgewanderte Japanerin hatte Leinwände mit grauen, sich unendlich wiederholenden, pastosen Kringeln bemalt, Möbelstücke mit ausgestopften Stoffphalli bezogen, ganze Galerieräume mit Lichtreizen überflutet und so innerhalb weniger Jahre ein Werk geschaffen, das von der abstrakten Nullpunkt-Malerei bis zur Pop Art mehrere maßgebliche Kunstströmungen mitprägte.

Auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Protestbewegung stieg sie zu nationaler Bekanntheit auf, und auch das deutsche Fernsehen wurde auf sie aufmerksam. Im folgenden Jahr entwarf Kusama für einen deutschen Fernsehsender ein Happening, in dem homosexuelle Männer in einem rundum verspiegelten, von flackernden Lichtern erhellten Raum eine Orgie feierten, wie um dem Publikum zu zeigen: Es gibt uns, wir wol- len uns nicht mehr verstecken müssen. Während des sexuellen Treibens begannen die Männer, einander mit bunten Punkten zu bemalen – dem Markenzeichen der Künstlerin.

Solche mittlerweile legendären Geschichten reiht Kusama in ihrer 2002 erschienenen Autobiografie Infinity Net locker aneinander, doch aus den sechziger Jahren führte ihr Weg keinesfalls so unaufhaltsam, wie man meinen könnte, zu ihrem heutigen Status als Superstar der Kunstwelt. In den letzten Jahren sind eine Filmdokumentation und eine Graphic Novel über das Leben der fast 92-Jährigen erschienen, Journalisten und Kuratoren würden sie gern in ihrem Atelier besuchen, doch sie empfängt kaum noch Besuch. Ihre Bilder werden zu Millionenpreisen gehandelt, und vor Corona stand das Publikum blockweise Schlange, um sich in der Unendlichkeit ihrer Erlebnisräume zu verlieren.

In den siebziger Jahren allerdings war Kusama kurzfristig aus dem Blickfeld geraten und aus der Mode gekommen. Sie war seelisch erschöpft aus dem flirrenden New York nach Tokio zurückgekehrt und hatte sich 1977 selbst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen – in der sie bis heute lebt. Erst 1993 wurde die unermüdlich weiterarbeitende Kusama auf der Biennale von Venedig wiederentdeckt und als das gewürdigt, was sie ist: eine radikale Pionierin der Nachkriegskunst.

Als sich Yayoi Kusama 1957 entschloss, ihre Heimatstadt Matsumoto in der Präfektur Nagano zu verlassen und in den USA neu anzufangen, wollte sie den Zwängen ihres Elternhauses und der traditionellen japanischen Gesellschaft entfliehen. Im Gepäck hatte sie Bilder, Seidenki- monos und ein kleines Vermögen, das sie in ihre Kleidung einnähte, um die Ausfuhrbeschränkungen für Devisen zu umgehen, und einen tiefen Groll gegen die Ungerechtigkeit im Verhältnis der Geschlechter. »Schon als Kind empörte es mich, dass Männer uneingeschränkt Sex praktizieren, während Frauen diesen in deren Schatten still erdulden.«

Traumata und Halluzinationen

Auf Drängen ihrer Mutter musste sie ihrem ständig fremdgehenden Vater nachspionieren, und wenn sie sich weigerte, so Kusama, ließ die Mutter ihren Schmerz über dessen Untreue an ihr aus. Mehrfach überraschte sie ihren Vater beim Sex: »Es steht wohl außer Frage«, schrieb Kusama später, »dass sowohl meine heftige Abscheu als auch meine starke Faszination gegenüber dem nackten Körper in den Erfahrungen meiner Kindheit wurzeln.« Es ist schwer zu beurteilen, inwiefern die traumatische Atmosphäre ihres Elternhauses zu jenem Erweckungserlebnis führte, das Kusama als Ursprung ihrer Kunst beschreibt: In ihrer Autobiografie schildert sie, wie die Blumen eines Feldes plötzlich lebendig wurden und sprechende Gesichter auf den Stängeln wippten. »Ich sprang auf und lief wie von Sinnen zum Haus. Unser Hund rannte hinter mir her und bellte mich an – in Menschensprache. Ich war völlig perplex, doch als ich etwas entgegnen wollte, hatte ich eine Hundestimme.« Solche Halluzinationen verfolgten sie fortan, und immer, wenn die Bilder wieder um sie blitzten und tanzten, floh Kusama ins Haus und malte, was sie gesehen hatte. »Ich zeichnete ein Bild nach dem anderen. Dabei war ich nicht wirklich anwesend, ich war wie in einer anderen Welt.«

Die Kunst blieb Kusamas Zufluchtsort, auch als sie älter wurde. Im Grunde versuchte sie, ihr kindliches Erweckungserlebnis, bei dem sie mit der Natur zu verschmelzen schien, zu wiederholen, und den anhaltenden Schrecken dieses Traumas zu bannen, indem sie ihn unter kontrollierten Bedingungen immer wieder heraufbeschwor. In ihren Memoiren erzählt sie, wie sie wie besessen und halb verhungert kleine Punkte und Kringel auf riesige Leinwände malte und wie ihr das ganze Atelier, Möbel, Wände, Böden, auch der eigene Leib zu einer einzigen großen Leinwand wurden: »Wenn ich meinen gesamten Körper mit Punkten bemale«, so Kusama, »und auch den Hintergrund mit Punkten versehe, ist das ein Akt der Selbstauslöschung.« In der künstlich geschaffenen Unendlich- keit aufzugehen erscheint als die große Sehnsucht und der Fluchtpunkt ihres Werks. Am nächsten kommt sie ihm in ihren Raumin­stallationen, wo Abermillionen Punkte alle Grenzen aufzulösen scheinen.

Kusama nennt ihre Arbeiten selbst »psychosomatische Kunst«, die offensichtlich eine selbsttherapeutische Wirkung haben soll. »Ich mache meine Komplexe und Ängste zum Gegenstand meiner Arbeit«, schreibt sie. »Allein die Vorstellung, dass ein langes hässliches Etwas wie ein Phallus in mich eindringen könnte, ist grauenvoll. Deshalb stelle ich so viele Penisse her.« Sie glaubt, dass auch die aufgewühlte Welt um sie herum leidet und sich nach Heilung sehnt. In gewisser Hinsicht nahm Kusama die Stichworte und Leitmotive der Hippiebewegung vorweg, denn dass Zivilisation, Kapitalismus und »Phal- lokratie« unglücklich und krank machen, war Mitte der sechziger Jahre – wie heute wieder – in linken Kreisen ein Gemeinplatz. Kusama lehnte sich auf sehr private Weise künstlerisch ge-gen die Verhältnisse auf – und das in einer Welt, in der das Private dezidiert zum Teil der Politischen erhoben wurde.

Mit ihrer psychosomatischen Kunst traf Kusama den Zeitgeist der sechziger Jahre, und trotz mehrerer psychischer Krisen arbeitete sie unermüdlich weiter. Wenn sie nicht unendliche Welten aus kleinen, pastosen Malkringeln knüpfte, bildete sie geschäftliche Netzwerke, befreundete sich mit Malern und Kritikern und überfiel Galeristen mit frischen Arbeiten. In Avantgardekreisen hat- te sie schnell Erfolg, sie wurde ausgestellt, überschwänglich besprochen, und, als sie um 1962 begann, Möbel mit ausgestopften Stoffphalli zu drapieren, konnte man diese neben Arbeiten von Andy Warhol und Claes Oldenburg sehen. Sie gehörte zur Speerspitze der Pop Art, fühlte sich aber nicht ausreichend gewürdigt, gegenüber männlichen Künstlern benachteiligt und gelegentlich regelrecht bestohlen. Oldenburg habe erst nach ihrer gemeinsamen Ausstellung angefangen, weiche Stoffskulpturen zu produzieren, so Kusama, und Warhols Kuhtapete sei ein direktes Zitat ihrer One Thousand Boats Show von 1964.

Heute fällt es nicht schwer, in Kusamas New Yorker Arbeiten moderne Klassiker zu erkennen. Mit ihren frühen Infinity Net-Gemälden suchte sie einen neuen Nullpunkt der Malerei, wie Lucio Fontana, Yves Klein oder die Zero-Künstler reduzierte sie das Malerische auf ihren Bildern auf ein Mindestmaß und etablierte damit das Prinzip ihrer mit der Zen-Philosophie verwandten Kunst: durch ewige Wiederholung des Immergleichen zur Unendlichkeit. Man erkennt dieses Prinzip auf ihren von Phalli überwucherten Pop-Objekten, in ihren von Lichtspielen erleuchteten Spiegelräumen, im See metallischer Kugeln, in dem sie sich im knallroten Ganzkörperanzug treiben ließ, und selbstredend in ihrem Markenzeichen, den ihre Welt strukturierenden und zugleich auslöschenden Punkten. Einen anderen Akzent setzte sie mit ihren Happenings gegen Krieg, herrschende Sexualmoral und die kommerzielle Kunstwelt. In ihnen inszenierte sie Nacktheit als politisches Statement und als Ausdruck menschlicher Verletzlichkeit und suchte dafür konsequent eine Bühne in der Öffent- lichkeit. Auch dabei ging es um Entgrenzung, dar­um, in einer Idee, einer Gemeinschaft oder schlichtweg im Sexualakt aufzugehen. Im Gegensatz zu anderen feministischen Künstlerinnen wie Yoko Ono oder VALIE EXPORT exerzierte Kusama ihre Aktionen allerdings so gut wie nie am eigenen Körper.

Nach ihrem psychischen Zusammenbruch Mitte der siebziger Jahre gab sich Kusama ein öffentliches Erscheinungsbild mit roter Perücke und Kleidern, die oft das gleiche Muster wie ihre Werke tragen. Von Tokio aus arbeitete sie, zurückgezogen von der Welt, weiter: Sie variierte virtuos alte Werke wie die berühmten Riesenkürbisse (wohl eine späte Rache an Claes Oldenburg) und schuf darüber hinaus viele neue Arbeiten, die, nimmt man indigene Künstler und Außenseiterkünstler aus, in der Moderne einzigartig sind in ihrer Lust an farbiger Ornamentik. Mit ihrer Obsession für Muster und Dekoration kitzelt Kusama nicht nur die Schmucklust des Publikums, sie beantwortet auch die alte Frage, warum Menschen seit Urzeiten den scheinbar unwiderstehlichen Zwang verspüren, Alltagsge- genstände und Gebäude zu verzieren. Vielleicht geht es dabei um eine grundlegende Sehnsucht nach Ordnung und Orientierung, um einen kollektiven Wunsch, den Kusama perfekt zu bedienen und zu verkörpern scheint.

Im selben Maß steht Kusama für Ideale, die unsere zeitgenössischen Debatten prägen. In den sechziger Jahren hielt sie symbolische Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare ab, kämpfte für Frieden, Toleranz und Gleichberechtigung, und auch wegen ihrer dauerhaften Erkrankung erkennt man in ihr ein Beispiel positiv besetzten Andersseins.

In ihren Erinnerungen pflegt Kusama das Selbstbild einer Künstlerin, die alles aus der eigenen Welterfahrung schöpft und keine Vorbilder kennt. So deutlich sie darin ihren Einfluss auf andere Künstler betont, so beharrlich schweigt sie darüber, von welchen Künstlern sie selbst beeinflusst sein könnte. Vielleicht gab es tatsächlich niemanden, und ihre unendlichen Netze wiederholen lediglich die unzähligen Kieselsteine, die sie als Kind im Flussbett sah und an den Sternenhimmel projizierte. Dann läge es nahe, ihr Werk im Kontext der Außenseiterkunst zu sehen, also etwa im Vergleich zu psychisch Kranken, die, in der Regel ohne jede künstlerische Ausbildung, fantastische Motive und in sich geschlossene Universen schaffen. Doch dafür formte Kusama ihr Werk viel zu bewusst und ihr Image zu artikuliert und zielstrebig. Wie sich Leben und Kunst in ihrer Gestalt vereinen, bestimmt sie maßgeblich selbst – und das ist ein Triumph. //