Die Peitsche der Vernunft – und der Fortschritt, den sie treibt

Die Peitsche der Vernunft – und der Fortschritt, den sie treibt

EDITORIAL
  • Öko-Pionier Victor J. Papanek predigte schon den 68ern das nachhaltige Entwerfen.
  • Heute stehen Designer, Kollektive und Künstlerinnen wie Hella Jongerius
  • Formafantasma
  • raumlabor oder Katie Stout für neues und wildes Denken. Alles in diesem Heft!

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

ja, das Ende des Hedonismus ist schmerzhaft. Seien wir ehrlich: Wie hätte ein ART-Spezial zum Thema Design ausgesehen, das wir vor zehn, ja, noch vor fünf Jahren für Sie produziert hätten? Frische Trends und neue Stars aus aller Welt, wunderschöne, herrlich frivole Dinge – und dazu sonnige Rückblicke auf die verrücktesten Designer vergangener Jahrzehnte, das wäre es wohl gewesen. Zufriedenheit auf allen Seiten. Gute alte, aber etwas ignorante Zeiten.

Denn wir wussten es ja schon damals besser, als noch nicht die Peitsche der Vernunft über jedem Text und jedem Gedanken kreiste, als noch nicht Flugkilometer gezählt, Energiebilanzen aufgestellt und jedes Produkt nachhaltig »von der Wiege zur Wiege« durchdacht sein musste, um Absolution zu finden: Es konnte nicht so weitergehen wie in den letzten Jahrzehnten.

Till Briegleb bringt in seinem Essay ab Seite 24 die Antipoden der Nachkriegszeit gegeneinander in Stellung: Auf der einen Seite steht Raymond- »Hässlichkeit verkauft sich schlecht«-Loewy, der im Design vor allem ein Treibmittel für den Massenkonsum sah, das begehrenswerte Produkt als Katalysator für die Wachstumswirtschaft. Ihm gegenüber Victor J. Papanek, der schon in den sechziger Jahren den Ausstieg aus der Konsumkultur predigte. Von ihm stammt der Satz: »Das beste und einfachste, was Architekten, Designer und Planer tun können, um der Menschheit zu dienen, ist das sofortige Einstellen ihrer Arbeit.« Loewy hat recht mit seinem Satz – auch wenn er in die falsche Richtung weist. Papanek liegt falsch, auch wenn er das Richtige meinte.

Beides zu beweisen, ist der Sinn dieses Design-Spezials aus dem Jahr 2021: Es gibt rasend schöne Produkte, die gut sind für den Planeten. Und Designerinnen und Designern kommt eine wichtige Rolle dabei zu, die Welt zu retten – und zwar gerade nicht durch das Einstellen ihrer Arbeit.

In München gibt sich Stefan Diez zehn Gebote für nachhaltiges Entwerfen, in Amsterdam kritisiert Formafantasma die globale Holzwirtschaft, in Berlin entwirft raumlabor wandelbare, ressourcenschonende Strukturen, weltweit wird an Materialien geforscht, die Plastik, Beton und Leder ersetzen werden. Wir versammeln in diesem Heft Geschichten über Menschen, die versuchen, dem Gang der Dinge eine neue, bessere Richtung zu geben. In der Kunst wie im Design zählen coole Gesten, gespreiztes Geniegehabe, Protz und Glamour nun viel weniger. Dafür entdeckt die Kreativität gerade ein höheres Ziel als den Maximalprofit. Ein schönes Heft ist es trotzdem geworden – in diesen nachdenklichen, posthedonistischen Zeiten. Oder gerade deswegen!

PS: Unsere Abonnentinnen und Abonnenten bekommen dieses art Spezial automatisch – und zum Preis der regulären Ausgaben. Außerdem im Abo enthalten: die artCard mit vergünstigtem Eintritt in über 300 führenden Kunst- und Designmuseen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.