Geist, Ironie, Hintersinn, Codes: Was Kunst und Mode verbindet

Geist, Ironie, Hintersinn, Codes: Was Kunst und Mode verbindet

  • TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de
  • Charles Frederick Worth (1825 bis 1895), Erfinder der Haute Couture, inszenierte sich so extravagant und pittoresk wie die Malerfürsten seiner Zeit. Unser Titelkünstler Thorsten Brinkmann (*1971) kleidet sich im Alltag eher unauffällig in Jeans - schlüpft aber für seine Kunst in die verwegensten fürstlichen Outfits

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

wer die Kunst erfunden hat, lässt sich bekanntlich nicht sagen. Die Mode, wie wir sie kennen, ist eine Idee von Charles Frederick Worth, seit 1858 Mitinhaber und kreativer Kopf des Hauses »Worth et Bobergh« in der Rue de la Paix in Paris. Er war der Erste, der einen Namenszug in seine Kleider einnähen ließ. Mit dieser Signatur erhob sich der Ausstatter für Kaiserin Sisi, Queen Victoria, die Schauspielerin Sarah Bernhardt und des It-Girls der Epoche Lillie Langtry als selbstbewusster Künstler aus der Anonymität des Schneiderhandwerks. Gleichzeitig schuf er damit ein Label, eine Marke - und begründete so die bis heute florierende Fashion-Industrie. Bei dieser Doppelnatur ist es seitdem geblieben: Einerseits ist die Mode eine weltumspannende, hochfrequente Wertschöpfungsmaschine, die die Reichen und Schönen dieser Welt bedient (und alle anderen mit). Andererseits lebt sie vom Nimbus genialer Leitfiguren, die den wechselnden Zeitgeist erspüren und als freie Schöpfung in avantgardistische, normsprengende Form bringen - und so permanent für neuen Diskussionsstoff sorgen.

Die Verwandtschaft zur bildenden Kunst liegt also auf der Hand. Zumindest seit dem Beschleunigungsschub der Moderne laufen Kunst und Mode parallel als hochtourige Zeitgeist-Industrien , die im saisonalen Takt das Geschehen spiegeln und Impulse in die Gesellschaft pumpen. Modeschöpfer Giorgio Armani, der sich übrigens nicht als Künstler sieht, bringt es im Interview ab Seite 98 auf den Punkt: »Heute sind Mode und Kunst ja beides zeitgenössische Disziplinen, die imstande sind, die ganze Komplexität der Moderne auszudrücken, und die ihre Komplexität miteinander teilen.« Und sie teilen auch ein populäres Missverständnis, möchte man hinzufügen: Dass es bei ihnen in erster Linie um Schönheit gehe. Es geht vielmehr um Geist, um Ironie, um Hintersinn und Codes - beides sind Spiele, die umso mehr Spaß machen, je mehr man weiß.

In diesem ART-Spezial haben wir uns auf den Weg begeben, die Schnittmengen von Kunst und Mode zu erforschen und tief in das lustvolle und inspirierende Cross-over zwischen den Sparten einzutauchen. Wir tun dies dezidiert als Kunstjournalisten in einem Kunstmagazin, auch wenn wir uns etwas Hilfe von Modeexperten dazugeholt haben. Es war eine extrem spannende Expedition für uns, immer auf der Grenze von bekanntem Terrain und Neuland. Diese Reise hat uns die Kunst manches Mal mit anderen Augen sehen lassen und uns bei der Mode Sinn und Facetten gezeigt, die wir so nicht erwartet hatten. Wir hoffen, dass Sie an diesen Erkundungen ebenso viel Freude haben werden wie wir. Ob wir unsere Leitfrage »Ist Mode Kunst?« nun beantworten können? Ebenso wenig, wie wir die Frage »Was ist Kunst?« jemals werden beantworten können - aber genau das macht die Sache ja so spannend!

PS: Meine Lieblingsgeschichte finden Sie ab Seite 108: die schrägsten, schönsten und coolsten Künstleroutfits im Lauf der Jahrhunderte, spielerisch analysiert von meiner Kollegin Barbara Hein. Gleichzeitig aber auch ernst: Denn was jemand anzieht, wie er oder sie sich zeigt, ist eben eine sehr persönliche Botschaft - so wie das, was er oder sie schafft.