Bilder aus den Fugen

Im 16. Jahrhundert begannen die Maler in Italien, gegen die ehernen Regeln der Renaissance-Malerei zu verstoßen: Groteske Körper und verzerrte Kompositionen lösten das Ebenmaß ab. Jahrhundertelang taten sich Kunsthistoriker und Publikum schwer mit der Malerei des Manierismus. Nun wagt das Frankfurter Städel eine Neubestimmung

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TEXT: SANDRA DANICKE

Fast scheint es, als kippe der Mann aus dem Bild. Seltsam verdreht hockt er da, als ducke er sich, um ins Format zu passen. Sein Kopf ist vergleichsweise winzig. Die nackte Brust, an die er einen Stein gepresst hält, ist dafür umso muskulöser. Wie er da sitzt, sich geradezu aus dem Gemälde herauszuschrauben scheint, ist nicht recht zu begreifen. Sitzt er überhaupt? Die Perspektive ist jedenfalls ziemlich abenteuerlich.

Ungewöhnlich ist auch, dass der heilige Hieronymus, der um 1528/29 von Jacopo da Pontormo als Büßer dargestellt wurde und jetzt in der Ausstellung »Maniera. Pontormo, Bronzino und das Florenz der Medici« im Frankfurter Städel-Museum zu sehen ist, keinen wallenden Vollbart trägt. Wären da nicht seine Attribute - der Löwe, dem Hieronymus der Legende nach einen Dorn aus der Tatze gezogen hat, und das rote Kardinalsgewand -, man hätte den Heiligen gar nicht erkannt. Überhaupt: das Gewand. Stoff fällt in Wirklichkeit natürlich anders, das wusste man im 16. Jahrhundert längst. Und warum das Kreuz am Bildrand links nicht umfällt, ist auch nicht recht zu erklären. Offensichtlich ging es dem Maler nicht um perspektivische Plausibilität, sondern um eine Intensität der Gefühle, die sich mit präziser Naturnachahmung nicht darstellen ließ. Und noch bevor wir all diese vermeintlichen Fehler bemerkt haben, hat uns die Wucht des Gemäldes gepackt.

Kühn drückten die jungen Maler etablierten Bildthemen ihren eigenen Stempel auf

Zugleich sind es genau jene artifiziellen, oft übertrieben wirkenden Merkmale des Manierismus, die zahlreiche Kunstliebhaber bis heute befremden. Jahrhundertelang war die eigenwillige Epoche zwischen Hochrenaissance und Frühbarock verpönt, was sich auch im Namen ausdrückt: Manieriertes gilt als gekünstelt, eitel, unnatürlich. Das bekannteste Manierismus-Gemälde, Madonna mit dem langen Hals , das der italienische Maler Parmigianino um 1534/40 für eine Kirche in Parma schuf, vereint denn auch all diese negativen Attribute auf frappierende Weise: eine merkwürdig unausgewogene Komposition mit grotesk überlängten Körpern und einer Maria, deren Grazie ins Irrwitzige übersteigert ist. Es ist ein bizarres Bild, das zugleich abschreckt und fasziniert.

Giorgio Vasari, Chronist jener Zeit und Verfasser zahlreicher Künstler-Biografien, bezeichnete den neuen Stil noch neutral als »maniera moderna«. Als niedrig und gemein verurteilte ihn hingegen 1672 der Kunsttheoretiker Giovanni Pietro Bellori: »Die Künstler gaben das Studium der Natur auf und verdarben die Kunst durch die Manier, das heißt, eine fantastische, nicht auf die Nachahmung, sondern auf die künstlerische Übung gestützte Idee.« Noch 1855 tadelte der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt die »phantastische Willkür, die unwürdige Verwilde- rung«, die »Ausartung« der Manieristen. Dass die Dynamik manieristischer Kompositionen den Barock erst möglich gemacht hat, hatte man kurzerhand ignoriert.

Erst um 1920, als Individualismus, Experimentierfreude und der Mut zum Unperfekten als entscheidende Bestandteile künstlerischen Ausdrucks geschätzt wurden, begann man den Manierismus, der nun zunehmend »Maniera« genannt wurde, zu rehabilitieren - ohne dass sich die Forscher je einig gewesen wären, was genau unter dem Begriff zu fassen sei. Handelt es sich um einen antiklassischen Stil? Oder im Gegenteil um eine konsequente Weiterentwicklung der Hochrenaissance? Geht es einzig um die edle Form, ist der Manierismus also ein »stylish style«, wie der britische Kunsthistoriker John Shearman 1967 in einem viel beachteten Buch zum Thema behauptet hat? Oder muss man die Künstler jener Periode als besonders kühne Avantgardisten begreifen, denen es vornehmlich um Idee und Inhalt ging, wobei zentrale Errungenschaften der Malerei wie räumliche Logik oder realistische Proportionen hintanstehen mussten?

Tatsächlich stimmt beides. Manierismus ist eine Art Hilfsbegriff für eine Kunst, die so vielgestaltig ist, dass man sie kaum über einen Kamm scheren kann. Die Ausstellung in Frankfurt zeigt das Phänomen nun in einem größeren Kontext und spürt den Entwicklungen nach, die - vor allem in Florenz - vom idealisierten Naturalismus des 15. Jahrhunderts zur Überbetonung des individuellen Ausdrucks in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts führten.

Die Anfänge des Manierismus fallen in eine Zeit voller politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, die eng mit dem Schicksal der Medici verknüpft sind. 1494 war die einflussreiche Bankiersfamilie aus Florenz vertrieben worden. 1512 kehren die einstigen Machthaber aus dem Exil zurück und setzen alles daran, ihre alte Position zurückzuerobern. Zur selben Zeit entwickelt sich die Werkstatt des Renaissance-Malers Andrea del Sarto zu einem Hotspot für kreative Talente wie Jacopo da Pontormo (1494 bis 1557) und Rosso Fiorentino (1494 bis 1540). Del Sarto versteht es, die Stilrichtungen seiner Idole Leonardo da Vinci und Michelangelo geschickt zu ungemein plastischen und farbintensiven Bildern zu verknüpfen, in denen sich die Exzentrik der Manieristen bereits ankündigt.

Seine Schüler gehen freilich noch weiter. Während Rosso Fiorentino mit dreisten Regelverstößen provoziert, entwickelt Pontormo einen furiosen Zeichenstil aus wild wirbelnden Linien. Wie radikal sich ihre Malerei von der ihrer Vorgänger abhebt, lässt sich am Florentiner Traditionsthema Madonna mit Kind und dem Johannesknaben anschaulich beobachten. Wo etwa bei Raffaels Madonna Esterházy (1507/08) noch keusche Anmut und heiliger Ernst die Stimmung des Bildes beherrschen und das Trio vollends mit sich selbst beschäftigt ist, schauen Mutter und Kind bei Pontormo (um 1516/17) dem Betrachter herausfordernd entgegen; statt keuscher Anmut herrscht hier eine ausgeprägte Lebendigkeit. Rosso Fiorentino schließlich missachtet in seiner Version von 1521 sämtliche Konventionen. Mit seinen groben, expressiv überzeichneten Gesichtszügen wirkt sein Jesusknabe wie eine Karikatur, während die Madonna als aufreizendes Weib mit langen Spinnenfingern und erigierten Brustwarzen alle Grenzen des Angemessenen sprengt.

Am Anfang des Manierismus steht eine mächtige Familie: die Medici

Mit welcher Kühnheit die jungen Maler etablierten Bildthemen ihren eigenen Stempel aufdrücken, zeigt sich auch an den unterschiedlichen Bildfindungen zum Martyrium der Zehntausend . Die mittelalterliche Legende handelt von Tausenden Rittern, die zur Zeit der Kreuzzüge nach Armenien geschickt wurden, um dort ein Heer von Aufständischen niederzuschlagen, und schließlich von römischen Kaisern zum Tode verurteilt wurden. Der Grund: Sie hatten sich zum Christentum bekehren lassen, um die Schlacht gegen den übermächtigen Gegner zu gewinnen.

Noch 1522 entwirft der Raffael-Schüler Perino del Vaga eine viel gerühmte Modellzeichnung für ein geplantes (aber nicht ausgeführtes) Wandgemälde in der Kapelle der Bruderschaft Compagnia dei Martiri: ein ausgewogen komponiertes Meisterwerk im antikisierenden römischen Stil, das die Verurteilung und das Martyrium der Soldaten zeigt. Wo bei del Vaga die Protagonisten jedoch vergleichsweise statisch auf den ihnen kompositorisch zugewiesenen Plätzen verharren, verknäulen sich bei Pontormo - von dem eine Rötelzeichnung zum selben Thema im selben Format (wohl für denselben Auftraggeber) existiert - die Soldaten in einem wüsten Schlachtgetümmel. Sieben Jahre später greift er für ein Gemälde auf Teile seines nie realisierten Entwurfs zurück und erschafft eine Art Wimmelbild voll fantasievoller Details: gepeinigte Körper, entsetzte Gesichter, ein Engel, der Marternägel aufklaubt.

Das »Bildprogramm«, schreibt Bastian Eclercy, Kurator der Frankfurter Ausstellung, im Katalog, »reflektiert im Spiegel der frühchristlichen Legende unmittelbar und sinnfällig die wechselvollen Ereignisse der Belagerung von Florenz (1529/30). Jenes düstere Panorama von Kampf, Bedrohung und Tod (…) gleicht der aktuellen Situation der Florentiner Bürger. Der Feldzug der kaiserlichen Truppen gegen die zum Christentum bekehrten Soldaten in Armenien, die auf Geheiß des römischen Machthabers zum Tode verurteilt wurden, versinnbildlicht die Belagerung der Republik Florenz, die sich Christus zum König erwählt hatte, durch das Söldnerheer Kaiser Karls V. Dass die für das Geschehen verantwortliche Figur des Imperators Skulpturen des Giuliano und Lorenzo de’ Medici zitiert, dürfte keinem Betrachter, der sich auf solche politische Lesart einließ, entgangen sein«.

Ein Staatsstreich hatte die Medici 1527 erneut vertrieben. Grund dafür waren die Folgen der Ernennung von Giovanni de’ Medici 1513 zum Papst Leo X. - ein Amt, das 1523 sein Cousin Giulio als Clemens VII. übernommen hat. Seither wurde die Stadt am Arno zunehmend vom Hof der Medici-Päpste regiert und somit zu einem Anhängsel Roms. Doch bereits drei Jahre später kommen die Medici wieder an die Macht. Durch eine Verfassungsänderung wird Florenz nun zu einer aristokratischen Republik und Alessandro de’ Medici zum ersten Herzog von Florenz. Da Andrea del Sarto mittlerweile gestorben ist und Rosso sowie Michelangelo die Stadt verlassen haben, sind Pontormo und sein Schüler und Freund Agnolo Bronzino die führenden Künstler der Stadt.

1533 malte Bronzino die vornehme Dame in Rot , ein Bild aus dem Städel-Museum, das den Anlass zur Schau gab und, so die Ausstellungsmacher, »der erste künstlerische Höhepunkt in der Geschichte des monumentalen, repräsentativen Damenbildnisses in Florenz « ist. Streng und makellos, im pompös gebauschten Kleid mit Hündchen auf dem Schoß sitzt die Porträtierte vor einer mit Pilastern versehenen Nische. Die Lehne ihres reich verzierten Savonarola-Stuhls hält den Betrachter auf Distanz. Gut möglich, dass dieses würdevolle Porträt mit dazu beiträgt, dass die Medici Bronzino sechs Jahre später zum Hofmaler ernennen. Fortan porträtiert er nicht nur den neuen Herzog Cosimo I., seine Gemahlin Eleonora di Toledo sowie ihre Kinder und Angehörige der höfischen Gesellschaft in selbstbewussten Posen kühler Erhabenheit, er fertigt auch religiöse Tafelbilder und stattet Eleonoras Privatkapelle im Palazzo Vecchio mit Fresken aus.

Manches manieristische Gemälde erscheint noch heute gewöhnungsbedürftig

Bereits um 1530 hatte Bronzino (eventuell gemeinsam mit Pontormo) ein Programmbild des Paragone, einem Wettstreit der künstlerischen Gattungen Malerei und Bildhauerei, geschaffen. Pygmalion und Galatea geht auf eine Sage der griechischen Mythologie zurück, nach der der zypriotische Bildhauer Pygmalion eine Frauenstatue erschuf, die sich durch seine Liebe (und das Zutun der angebeteten Göttin Venus) in einen Menschen verwandelt. Die Verlebendigung der Skulptur, deren Pose deutlich auf Michelangelos Statue David anspielt, geschieht hier mit den Mitteln der Malerei. Zirka 15 Jahre später, in seinem sensationellen, Mythologie und Porträt verschmelzenden Bildnis des Andrea Doria als Neptun (1545/46), zitiert Bronzino den David noch einmal. »In diesem Sinne«, so Katalogautor Sefy Hendler, »hat Bronzino das Bildnis des Admirals gleichsam ›in Stein gemeißelt‹« - auch dies ein Beitrag zum Paragone.

Manches manieristische Bild erscheint noch heute gewöhnungsbedürftig. In der Frankfurter Ausstellung ist das zum Beispiel das Bildnis eines jungen Mannes, das Francesco Salviati, wie Pontormo und Rosso ein Schüler Andrea del Sartos, um 1546/48 gemalt hat. Mit dem affektiert auf die Taille gelegten rechten Handrücken wirkt der leicht errötete Jüngling wie die Karikatur einer feinen Dame. In den übergrazilen Fingern seiner Linken hält er seidengefütterte Lederhandschuhe in die Höhe, als handele es sich um einen Fächer. Die grüne geknotete Stoffkaskade hinter ihm scheint ihn wie eine Stola zu umhüllen. Daneben ist eine Landschaft zu sehen, in der eine kleine Nackte in einer Blume posiert und ein Löwe neben einem ebenfalls nackten Mann vor rosafarbenem Himmel liegt. Von seinem Haupt fließen Wasserströme hinab. Man kommt nur schwer umhin, das gesamte Arrangement ein wenig albern zu finden, selbst wenn man weiß, dass der Mann eine allegorische Darstellung des Flussgottes Arno ist.

Dass die Mehrheit der manieristischen Gemälde keineswegs so aufgesetzt und kapriziös wirkt, wie man immer gedacht hat, dass die Eleganz und Vehemenz dieser Werke oft genug ohne groteske Übertreibungen auskommt, ist eine überraschende Erkenntnis dieser Schau. Höchste Zeit für eine Neubewertung des Manierismus als das, was er ist: ein mutiger Schritt Richtung Moderne.