Raffael: Gegen den Strich

Von wegen Kitsch! Auch wenn Raffaels Gemälde längst zum Inbegriff gefälliger Harmonie wurden, zeigen seine Zeichnungen einen entfesselten Renaissancemeister
Text: Raphael Dillhof
Schützend breitet die Madonna ihre Arme um das Jesuskind, und ruhig und sachte greift das Kind den Stab des Johannes, welcher ihm gegenüber kniet. Die Gesichter der in beinah perfekt symmetrischer Dreieckskomposition angeordneten Figuren blicken liebevoll, der Farbakkord ist ausgewogen – es ist die meisterhafte Wiedergabe von göttlich-friedlicher Hamonie, die Raffael da in seinem Tafelbild der „Madonna im Grünen“ (1505) eingefangen hat. Und genau dieser Ausdruck klassischer Schönheit ist es, welcher Raffael weit über seinen Tod hinaus den Ruf des größten Malers aller Zeiten eingebracht hat – welcher ihn im Laufe des letzten Jahrhunderts allerdings auch bei Künstlern und Experten zum Inbegriff der langweiligen und leicht bekömmlichen Dekoration, in der Population zur unangefochtenen Nummer Eins auf Polsterkissen, Kaffeetassen und Kunstdrucken gemacht hat.
Ja, Raffaels Ruf hat gelitten. Aber dass damit die Geschichte des Meisters aus Urbino längst nicht hinreichend auserzählt ist, lassen nun hundertzwanzig Zeichnungen des Meisters vermuten, die bei ihrer Ausstellung im Oxforder Ashmoleon Museum gerade für eine kleine Sensation gesorgt haben – und die nun, gemeinsam mit zahlreichen seiner Gemälden, in der Wiener Albertina zu sehen sein werden. Wer sich also vertieft in die Blätter, die Großteils seit 25 Jahren nicht zu sehen waren, meint, einen ganz anderen Raffael entdecken zu können. Man muss nur genau hinsehen – und nie kam man dem Künstler näher.
Während seine mit Hilfe zahlreicher Assistenten gefertigten Gemälde nämlich abgeschlossen, fertig und glatt wirken, sind die Skizzen auch für ungeschulte Augen ein offenes Buch. „Zeichnungen sind ein eher unterschätztes Medium“, meint Catherins Whistler, Kuratorin der Oxforder Schau, „Aber wenn man sie als autonome Kunstwerke studiert, als eigenständige Objekte, dann erzählen sie viel über Raffaels Arbeitsweise. Was passiert, wenn er ein Blatt in die Hand nimmt? Wo beginnt er? Welche Entscheidungen trifft er?“ Dabei erlauben die Blätter direktere Einblicke als jedes andere. Sie zeugen von der eigenhändigen Ausführung, vom Gestus, von der Präsenz des Malers, von Raffaels Vorbildern, seinem Wollen und Wirken, von Bemühungen und Schwierigkeiten: Leichte, schnelle Federstriche zeigen die Sicherheit Raffaels Hand, während bei anderen Arbeiten Überzeichnungen, ausradierte Stellen, doppelseitig benutzte Blätter oder Streichungen Auskunft über sein Tüfteln, den Werdegang der Konzepte geben.
Und sie lassen seine Entwicklung nachvollziehen. Die früheste Zeichnung des Konvoluts aus dem Besitz des Ashmoleon spricht etwa Bände über die Talente des jungen Raffael. Das Porträt, möglicherweise ein Selbstporträt, datiert auf das Jahr 1500 – eine Zeitpunkt, als der siebzehnjährige Raffael bereits zum Waisen geworden war, die Werkstatt seines Vaters, der ebenfalls Maler war, übernommen hatte, und wurde in Verträgen mit dem Titel „Meister“ geführt wurde. Das in Kreide ausgeführte Porträt ist eine zarte und sanfte Wiedergabe eines jungen Mannes, fast noch ein Knabe, in feinen Linien ausgeführt. Raffael führt die dünn angespitzte Kreide erst in zögerlichen Strichen, um die Umrisslinien des Gesichts herauszuarbeiten, erst als er sie gefunden hat, zieht er die Kontur deutlich nach – die künstlerische Sicherheit seiner Hand, die man in späteren Arbeiten bemerkt, ist hier noch nicht vollständig ausgereift. Und doch findet man hier bereits ein tiefes Verständnis von modellierender Strichführung, von psychologischem Einfühlungsvermögen vor, welches man bei den statischen Skizzen seines Lehrers Pietro Perugino vergeblich sucht. Raffael sucht sich hier und findet langsam zu seinem Ausdruck, gelangt in der realistischen Darstellung zu einem Wendepunkt der Renaissance-Zeichenkunst überhaupt. Selten hat man als Betrachter die Möglichkeit, die künstlerische Knospung, die Entwicklung eines zukünftigen Genies so beobachten zu können, sie so deutlich vor Augen zu haben, wie vor diesem Blatt.
Aber schon die reinen technischen Details sprechen Bände über Raffaels Arbeitsweise, die er im Lauf seiner kurzen Karriere – Raffael starb im Alter von nur 37 Jahren – perfektionierte. Etwa die Wahl seiner Materialien zeigt, dass der Meister sämtliche der damals gängigen Techniken zur Perfektion beherrschte: die Feder, angespitzte Kohle oder der Silberstift für schnelle Skizzen, für genauerer Studien rote oder dunkle Kreide, die durch verwischen der Farbe malerische Effekte erlaubt; allen entlockte er ihre speziellen Vorzüge. Und auch eine Geheimwaffe setzte Raffael bei vielen Zeichnungen ein – so verraten beinah unsichbare Drucklinien unter den Zeichnungen, dass Raffael bei vielen Skizzen seine ersten Linien mit einem gespitzten Metallstab lediglich ins Papier gedrückt hat – eine Technik, welche rasche Vorzeichnugen erlaubt, welche in der späteren Zeichnung nicht sichtbar sind, nur unter Streiflicht aufscheinen.
Gerade diese spontanen Linien sind es, die nun besonders gut die andere Seite Raffaels zeigen. Während die meisten seiner Gemälde in einem Zustand von Perfektion zu verharren scheinen, sind viele Zeichnungen der pure Affekt, Emotion, Dynamik. Diese Seite zeigt da etwa eine ganze Serie von Blättern, die um 1509 zum Thema des betlehemitischen Kindermords entstanden ist. Raffael war da, nach längerem Aufenthalt in Florenz, längst zum begehrten Maler geworden, wurde erst kurz zuvor von Papst Julius II. nach Rom geholt worden, um die päpstlichen Stanzen auszumalen. Und man merkt, wie die Entwicklung voranschritt – hier zeichnet bereits ein Könner, der sich seiner Sache sicher ist. Auf wenigen Quadratzentimetern, mit wenigen Federstrichen lässt Raffael da auf einem Blatt die biblische Tragödie vor unseren Augen ablaufen. Der Soldat, das Schwert in der Hand, stürmt von links ins Bild, die zum Betrachter flüchtende Mutter, die ihr Kind zu beschützen sucht, vermittelt in ihrem krude ausgeführten Gesicht die ganze Palette zwischen Angst und Verzweiflung. Die Komposition, welcher Raffael anschließend vom berühmten Kupferstecher Marcantonio Raimondi als Stich ausführen ließ, ist fern vom hamonisch-statischen, in den lockeren Strichen mit der Hand scheint die überzeitliche Transzendenz gegen einen spontanen Ausdruck ausgetauscht – und doch ist die Zeichnung so spontan wie präzise, kompositorisch wie psychologisch ausgeklügelt, ist zentral auf eine weitere zum Betrachter fliehende Mutter orientiert.
Vor allem in diesen Szenen zeigt sich auch, wie frei, kreativ und zwanglos er seinen Quellen, seinen Vorbildern umging. Denn diesen Zeichnungen gingen Studien seiner älteren Zeitgenossen Leonardo und Michelangelo voraus – deren Zeichnungen Raffael in Rom betrachten konnte. Während er bei Leonardo da Vinci etwa die Komposition von Schlacht- und Massenszenen, die psychologische Darstellung, die Affekte in den Gesichtern, die Emotionen studiert, interessiert ihn an Michelangelo mehr der anatomisch korrekte Umgang mit dem menschlichen Körper. Aber Raffael kopiert nicht, er imitiert nicht, vielmehr macht er als selbstbewusster Zeichner beides zu Eigen, übernimmt nur, was er braucht: Michelangelos David dient ihm da etwa auf einer Zeichnung klar als Vorbild, aber er verändert die Pose nach seinem Geschmack.
Gerade in der Synthese seiner Vorbilder ist am Ende der selbstbewusste und geniale Raffael erkennbar: Ein Blatt aus der Sammlung der Albertina etwa zeigt besonders schön die von ihm erreichte Fusion aus Anatomie und Psychologie: Es ist eine Studie zu seinem großen Wandgemälde des „Brand im Borgo“, eine der Fresken die Raffael im Auftrag des Papstes Julius II. in den Stanzen ausführte. Ein gebrechlicher Mann wird da von seinem Sohn auf dem Rücken getragen. Die Figuren auf der in roter Kreide gehaltenen Zeichnung sind ins Detail ausgearbeitet und modelliert, die Arbeit hat trotz des leeren Hintergrundes mehr den Charakter eines autonomen Kunstwerks als den einer Vorstudie. Man fühlt die Schwere des Alten, man fühlt, wie der Junge unter der Last balanciert, überzeugend leblos hängt der Arm des Alten nach unten, fest ist der Griff, mit welchem der Sohn diese festhält. Es ist eine komplizierte Pose, die auch an anatomisch schwierigen Stellen überzeugt, es ist eine Zeichnung, die ein hohes Maß an Spannung in sich trägt, psychologisch tief ausgearbeitet ist – Raffael erzeugt hier eine Welt, erzählt die Geschichte einer emotionalen Verbindung, gänzlich ohne Farbe, auf einem Raum, knapp so groß wie ein A4 Blatt. Sehr gut vorstellbar, dass das Motiv ihm Nahe ging: Raffaels Vater starb schließlich früh, und ihm verdankte er den Start in die Malerzunft.
„Ja, Raffaels Ruf heute nicht der allerbeste“ meint Catherine Whistler, „aber das beruht auf einem Mythos“. Dass er zu einer abgedroschenen Floskel geworden ist, liegt am Ende daran, dass man einfach nicht genau genug hinblickt. So findet sich hinter der Harmonie in seinen Gemälden letztlich genau die gleiche psychologische Raffinesse, die ausgeklügelte Komposition. Und wenn die Blätter das Bild des Raffael nun gründlich entstaubt haben, so lassen sich in der Albertina nun durch die Augen der Zeichnungen auch die Gemälde neu betrachten. Und auch diese dürfte dann wirklich niemand mehr als Kitsch bezeichnen.