Joseph Beuys: Alles ist Kunst!

Filz, Fett, starke Sprüche und immer in Aktion – kein anderer deutscher Künstler hat die Nachkriegsära mehr geprägt als der Mann mit dem Filzhut. Doch wie relevant sind seine Werke heute noch, wie visionär seine Ideen? Eine kritische Analyse zum 100. Geburtstag
Text: Till Briegleb
Zieht man ein 100-Jahres-Resümee von dem, was Joseph Beuys als Künstler, Mensch, Politiker und Vorbild gesellschaftlich erreichen wollte, dann kann die Stimmung bei diesem Jubiläum eigentlich nur schlecht werden. Hat die Welt, wie er es unermüdlich forderte, eine friedliche Balance aus Materialismus und Spiritualität gelernt? Leben wir in Einklang mit der Natur und ohne Waffen? Ist unser Wirtschaftssystem heute fair und sozial, orientiert an den gerechten Bedürf- nissen der Menschen? Gibt es mehr Gemeinsinn und weniger Staat? Leben wir in einer direkten Demokratie, und ist die lustig? Fördert das Bildungssystem das freie Denken? Zei-gen wir unsere Wunden? Ist jeder Mensch ein Künstler?
Die Liste der von Joseph Beuys formulierten Anliegen ließe sich lange fortsetzen, denn in den rund 25 Jahren seiner Karriere, in denen er eine kontroverse öffentliche Figur war, hat Beuys energisch viele Forderun- gen nach Veränderung an die Gesellschaft gestellt. Und trotzdem wäre die Antwort auf alle obigen Fragen vermutlich: Nein. Wenn nicht sogar: Im Gegenteil. Ist Joseph Beuys also auf ganzer Linie gescheitert? War er ein naiver Optimist oder falscher Prophet, um den man eigentlich nicht weiter viel Aufhebens machen müsste? Oder sind vielleicht all diese Reden und Schriftzeugnisse von Beuys für eine geistige und politisch-ökonomische Kehrtwende der Bundesrepublik schon damals gar nicht ernst gemeint gewesen?
Stellt man diese Fragen so konkret, dann tappt man leicht in die gleiche Falle, in der so viele Biografen dieses »Jahrhundertkünstlers« gefangen waren, als sie sich bemühten, das Rätsel Beuys vollkommen zu entschlüsseln. Da gibt es die faszinierte und wohl- wollende Schar, die bereitwillig alles glaubte, was Beuys über sich erzählte, und aus seinen Selbstmystifizierungen das messianische Bild konstruierte, das wir heute als »der Schamane«, »der Revolutionär« oder »der Überkünstler« kennen. Das wiederum provozierte die Gegenreaktion von humorlosen Rechercheuren, die lange nach dem Tod des »Messias in Filz« 1986 lückenlos beweisen wollten, dass fast nichts der Wahrheit entspricht, was Beuys über seine Kriegsjahre als Bordfunker, Stuka-Schütze und Fallschirmjäger erzählt hat, und die für jede seiner Äußerungen herleiteten, welcher geistigen Quelle er sie gestohlen hat (vornehmlich aus Rudolf Steiners anthroposophischen Theorien zu Geist, Wirtschaft und Sozialem).
Aber Joseph Beuys’ bis heute ungebrochene Wirkung erklärt sich eben weder dadurch, dass man seiner eigenen Markenbildung auf den Leim geht und ihn zu einem transzendentalen Leonardo mit Hut erklärt, wie er es wohl selbst so gerne gehabt hätte. Noch dadurch, dass man ihn wörtlich nimmt, um ihn dann detektivisch der Unwahrheiten und des geistigen Fremdgehens zu überführen. Aus dieser journalistischen Rechthaberposition, die meist ohne jedes Gespür für die Bedeutung und Seele seiner Kunst auskam, wurde Beuys in den letzten Jahren als Lügner, unoriginell, Esoteriker oder sogar als verkappter Faschist denunziert.
Doch Joseph Beuys war in nichts eindeutig. Genau darin findet sich die große Kraft seiner Kunst, die seine Person mit einbezieht: Es gibt diesen enorm reichen Kosmos Beuys, überladen mit Zeichen, Symbolen, Rätseln und Botschaften, mit Atmosphären, Erzählungen, Witzen und Verweisen, mit Widersprüchen, Parolen, Kitsch und Ernst, mit Sport, Musik, Politik und Metaphysik. Und den kann man sich auf unendlich vielen Wegen selbst erschließen. Bei Joseph Heinrich Beuys, den seine Freunde »Jupp« oder »Jüppken« nannten, aber seine Familie »Beuys«, lohnt immer noch der unvoreingenommene Werksspaziergang mit dem Ziel, sich von der Fremdartigkeit seiner Weltsicht inspirieren zu lassen.
Dass dies nie langweilig oder unergiebig wird, das liegt sicherlich an der intellektuellen Batterie von Beuys’ Geist, die in ständiger Polarität von Mystischem und Konkretem Strom spendete. Er sang eben einerseits 1982 in der ARD-Musiksendung »Bananas« zur allgemeinen Belustigung sein Friedenslied »Wir wollen Sonne statt Reagan, ohne Rüstung leben«, während er im selben Jahr auf der documenta in Kassel mit dem Projekt begann, 7000 Eichen zu pflanzen, was damals natürlich die populistische Frage provozierte, was daran Kunst sein soll.
Diese konsequente Mischung aus Leicht- und Unverständlichem ist die Rezeptur, mit der Beuys polarisierte. Gerade in dem »Museum der 100 Tage« in Kassel hat der sicherlich bedeutendste documenta-Künstler aller Zeiten im Fünf-Jahres-Rhythmus ab 1964 die Macht absurder Kombinationen zelebriert. Wenn er 1977 im Rahmen seiner »Free International University« mit Aktivisten aus aller Welt die großen Fragen der Zukunft diskutierte, während eine laut glucksende Röhre seiner Honigpumpe am Arbeitsplatz störend durch den Raum im Fridericianum führte, oder wenn er 1972 drei Monate mit dem Publikum über die Abschaffung der politischen Parteien sprach und die Debatte dann mit einem Boxkampf für direkte Demokratie durch Volksabstimmung beschloss, war die einzige Brücke, über die man das Politische mit dem Poetischen verbinden konnte, die Assoziation.
Sie ist es, die Joseph Beuys’ Welt im Innersten zusammenhält, und aus ihr erklären sich die beiden wichtigsten Begriffe seiner theoretischen Neuerung, mit der er das Kunstverständnis seiner Zeit auf den Kopf stellte: der »Erweiterte Kunstbegriff«, in dessen Zentrum die »Soziale Plastik« steht. Die assoziative Verknüpfung scheinbar unzusammenhängender Dinge, die Beuys als erster Künstler von jeder Hemmung befreite, ermöglichte es ihm, einem toten Hasen die Bilder zu erklären, eine Bundestagskandidatur als ästhetische Intervention zu vollziehen oder einfach sehr lange »Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee« zu sagen.
Als Bildhauer, als der er sich immer begriff, befreite er die Skulptur zunächst von ihrer bisherigen Existenzgrundlage der Materie und erweiterte sie auf den Prozess. Seine vielen Aktionen erklärte er ebenso zur »Sozialen Plastik« wie seine Parteigründungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen. Doch auch diese Ebene der Schwerverständlichkeit verließ er alsbald, um den Begriff der Plastik auf den Staat, die Physik und das ganze Universum auszuweiten.
Im Geist seiner radikalen Begriffsdefinition »Denken = Plastik« erfand er dann eine »Wärmezeitmaschine« für die Ökonomie in Form einer Erde als Apfel, erkannte in physikalischen Prozessen »Bewusstseinsenergie«, oder er gründete 1967 die kurzlebige Deutsche Studentenpartei, für die er selbstbewusst proklamierte, sie sei »die größte Partei der Welt, aber die meisten Mitglieder sind Tiere«. Beuys fegte mit seinen Studenten den Wald als Protest gegen angebliche »Parteiendiktatur« in der Bundesrepublik, provozierte Demonstrationen und Karnevalszüge gegen den Ankauf seiner Werke. Er verbrachte drei Tage in New York, eingerollt in Filzbahnen mit dem Kojoten Little John, inszenierte sich mit einer öffentlichen Fußwaschung 1971 in Basel als Jesus oder goss eine Unterführung in Münster mit Schlachtfett aus.
Solange die Vorstellung des Betrachters gereizt wird, etwas Wahrgenommenes in ei-nem unbekannten Zusammenhang neu zu erfahren, so Beuys’ Strategie, erweitert sich sein Kunstbegriff. Ganz im Sinne von Nietzsches »Umwertung aller Dinge« forderte Beuys mit seinen irritierenden Neukompositionen aus stofflichem und nicht stofflichem Material die Gewissheit von »Wahrheit« und »Objektivität« heraus. Ein Gespräch als Skulptur oder einen Filzstapel mit Kupferplatte als Reaktor zu verstehen soll die lustvolle Skepsis gegenüber der bekannten Welt fördern. Und das, darin besaß Beuys bei allen Anfeindungen, die er erleben musste, ein unerschütterliches Urvertrauen, verändert die Welt.
Auch seine Lehre an der Kunstakademie Düsseldorf, die er für jede und jeden öffnen wollte, was schließlich 1972 mit seinem Rauswurf durch den damaligen Kultusminister von NRW, Johannes Rau, spektakulär endete, verstand er als gesellschaftskritisches Gesamtkunstwerk. Sein Sendungsbewusstsein akzeptierte keine institutionellen Grenzen, wenn es darum ging, »die Richtkräfte einer neuen Gesellschaft« aufzuzeigen und einen besseren »sozialen Organismus« zu gründen.
»Wo ich bin, ist Akademie«, hat Beuys gesagt. Es hätte auch heißen können: »Wo ich bin, ist Therapie.« Denn tatsächlich verstand sich dieser Künstler immer als Therapeut der Gegenwart, seine Methoden der Bewusstseinsstörung sollte der Heilung von unsichtbaren Krankheiten dienen, die eine destruktive und ungerechte Realität erzeugen. Zeige deine Wunde, der berühmte Titel seiner Installation im Lenbachhaus München, hat sich deswegen so tief eingeprägt, weil er den Beginn jeder Traumabewältigung benennt. Und das – dessen war Beuys sich wohl bewusst – berührt alle Menschen, die um ihre Ängste wissen, ganz unmittelbar und persönlich.
Beuys meinte, als traumreisender Kunst-Schamane diese Übel erkennen und Menschen mit seinen Handlungen aus eingeübten krankmachenden Strukturen befreien zu können, um sie zu neuer Empfindsamkeit zu führen. Ein kluger Narr als Seelendoktor, der in seinem Anspruch allerdings nie bescheiden war: »Nach meinem Kunstbegriff will ich Wirkung in allen Lebensbereichen.«
Entsprechend war sein Einsatz. Beuys war überall und unermüdlich. Zehn Stunden täglich bei seiner documenta-Sprechstunde oder jeden Tag, auch samstags, in der Akademie in Düsseldorf, ständig auf Reisen zu 70 Aktionen und rund 130 Einzelausstellungen in aller Welt oder als Mitbegründer der Grünen im Wahlkampf, engagiert bei Diskussionen mit Rudi Dutschke, aber auch regelmäßig glücklich auf bierseligen Kameradschaftstreffen ehemaliger Stuka-Flieger.
Solche Gegensätze, die ihm seine vielen Gegner und Neider als Widersprüchlichkeit angekreidet haben, scheinen vielmehr die organische Lebenspraxis eines Menschen mit grenzenloser Offenheit gewesen zu sein, die sich nicht ständig selbst zensiert. Bewegung war Beuys Lebenselixier. Oder, wie er selbst es sagt: »Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung.« Und diese ständige Energie ohne Ferien führte ihn zu immer neuen Vorhaben, zu unverkrampften Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen und Grenzen, zum ständigen Ausprobieren und Erkunden, der anderen und seiner selbst.
Er suchte mit Bierernst in seinen Zeichnungen und Objekten, die so farblos blieben, weil er farbenblind war, nach der »Regeneration mythischer Sinnschichten«, und er war gleichzeitig ein fröhlicher Mensch, der sich auch selbst auf die Schippe nehmen konnte. Seine Filz- und Talgskulpturen, die wie Arte povera aussahen, übertrafen in ihrer Materialaufwendung »die Erstellung eines wilhelminischen Reiterdenkmals um ein Vielfaches«, wie Beuys langjährigster Sammler Hans van der Grinten einmal bemerkte. Und der einzige Gegenwartskünstler der Bundesrepublik, der zu seinen Lebzeiten auch vom »Bild«-Leser erkannt wurde, erklärte frech zu allen Schubladen: »Ich habe mit der Kunst nichts zu tun.« Wo es besser passte, sagte er dann aber auch: »Ich habe nichts mit Politik zu tun – ich kenne nur Kunst.«
Genau wegen dieser geistigen Beweglichkeit bewunderte ihn die junge aufgeschlossene Nachkriegsgeneration als »das Symbol eines wirklich freien Menschen«, wie sein langjähriger Weggefährte Heiner Bastian einmal bemerkte. Und ein großer Teil dieser Bewunderung fand seine Ursache in Joseph Beuys’ enorm starkem Ausdruck der Ermutigung. Seine vielleicht nachhaltigste Parole, »Jeder Mensch ist ein Künstler«, hat eine unbekannte, aber riesige Zahl von Menschen aus ihren Hemmungen befreit. Und sein maximal ausgedehnter Begriff von Material und Praxis, den er seinen Schülern und Bewunderern mitgab, nahm allen folgenden Generationen von Künstlern die Angst vor dem Anfang und dem Neuen.
Allerdings kann das latent Missverständliche, das jede knackige Parole begleitet, auch mal ordentlich schiefgehen. Eine Ausstellung ohne kuratorische Zugangsbeschränkung im Frankfurter Kunstverein 1976 mit dem Titel »Mit, neben, gegen«, die »Jeder Mensch ist ein Künstler!« in der Praxis belegen wollte, endete in einem Fiasko. Der Glaube der Ungeschulten, jetzt auch gemeint zu sein, erzeugte keineswegs spontan interessante Kunstwerke. Und Beuys großes Vertrauen in kreatives »Volksvermögen« führte auch nie automatisch zu einer Drachenfurche neuer Kunstgenies. So viel zum Wörtlichnehmen von Joseph Beuys.
Das lässt man also lieber, bis man nicht einen zweiten Postkartenspruch dieses hoch talentierten Parolenschmieds verstanden hat: »Wer nicht denken will, fliegt raus!« Oder, um es in den Worten der alten Schule auszudrücken, die Beuys überwinden wollte: Kreativität ist nur Schluderei ohne Ausdauer, Ernsthaftigkeit und Fleiß. Wenn man dazu bereit ist, dann kann man auch die höchste Stufe der Beuys-Mantras verstehen: »Ich denke sowieso mit dem Knie.«
Doch was ist nun mit dem politischen Beuys? Mit dem Mann, der immer wieder erklärte, dass die einzige revolutionäre Kraft die Kunst sei und dass es seine demokratische Pflicht sei aufzurütteln? Hat dieser gewaltfreie Revolutionär, dieser Kunst-Gandhi für die geistig hungernden Massen in der Gesellschaft tatsächlich zum Besseren gewirkt? Die Grünen, die er mitbegründet hatte, wollten ihn 1980 jedenfalls nicht für die Bun- destagswahl aufstellen, weil sie seine Reden für völlig unbrauchbar im Feld der Tagespolitik hielten. Auch wenn er vor 40 Jahren so prophetische Dinge sagte wie, er wolle »die Todeszone sichtbar machen, auf die sich die heutige Gesellschaft mit rasender Geschwindigkeit zubewegt«, waren seine Ausführungen und Ideen für echte Politik eben doch zu verstiegen und uneindeutig – etwa ein Plakat, auf dem ein Spielzeugsoldat auf einen großen Hasen zielt.
Dennoch hat vermutlich kein Künstler des 20. Jahrhunderts so viele Denkanstöße auf so vielen unterschiedlichen Feldern geliefert wie Joseph Beuys, keiner war eine derartig überzeugende und charismatische Kristallisationsfigur für Projektionen, Vorstellungen und Aufmunterung zum freien Handeln. Gerade weil seine Sprache mystisch, verklausuliert und fremdartig blieb, seine Reden versponnen und seine Forderungen den handfesten gesellschaftlichen Diskurs massiv überstrapaziert haben, bewahrten seine Ideen und Symbole ihre Fruchtbarkeit bis heute.
Ihr Adressat war nur tatsächlich nie die Gesamtheit der Gesellschaft, sondern der suchende Einzelne. Die individuelle Entfesselung kreativer Kräfte in größtmöglicher Selbstbestimmtheit, das ist die Forderung von Joseph Beuys an die Menschen, auch noch 2021. Auf diesem Einfallsweg beseelt das Spirituelle dann die materialistische Welt. Und nicht durch irgendeine theoretische oder metaphysische Weltdeutung. Das hat Beuys auf seine schnodderige Art auch selbst schon mal erklärt: »Die Schöpfung kann mich mal! – Der Mensch ist der Schöpfer selbst!« //