Gerhard Richter: Spielfelder
Landschaftsbilder durchziehen das gesamte Werk von Gerhard Richter. Eine große Schau in Wien und Zürich zeigt nun, was es mit dieser romantischen Seite des kühlen Malers auf sich hat: eine Geschichte von doppelten Böden, von Sehnsucht, sentimentaler Verlogenheit und Kuckuckseiern – mit ungeahnter Aktualität
Text: Almuth Spiegler
Niemand konnte vor fünf Jahren, als man diese bislang größte Ausstellung Gerhard Richters in Österreich und der Schweiz zu planen begann, ahnen, welch gespens- tische Aktualität sie bei ihrer Realisierung bekommen sollte. Ausgerechnet die so selten im Fokus stehenden menschenleeren Landschaftsbilder Richters hatte sich das Wiener Ausstellungshaus Bank-Austria-Kunstforum damals als Thema ausgesucht – und sich mit Richters ehemaligem kunsthistorischen Atelierassistenten Hubertus Butin als Co-Kurator einen direkten Zugang zu Richter gesichert.
Doch am Ende dieser ungewöhnlich langen Vorlaufzeit, Anfang des Jahres, überschlugen sich die Ereignisse. Alles schien brüchig zu werden, auch der Ausstellungsbetrieb, vor allem für teure Ausstellungen, wie es die von Richter sind. Sein lang erwarteter, prominenter Auftritt in New York – »Painting After All« im Met Breuer – wird wohl als teuerste und kürzeste in die Geschichte des Metropolitan Museum of art eingehen: Nach nur neun Tagen wurde die Retrospektive aufgrund der Corona-Restriktionen geschlossen. Im Rückblick gesehen genau der richtige Schwanengesang für diese umstrittene, junge Institution, die so viel Budget gefressen hat, dass sie gar nicht mehr wiedereröffnet, wie jetzt bekannt wurde, sondern der Frick Collection als Ausweichquartier abgegeben wurde.
Sicher ein Schlag für den im Februar gerade 88 gewordenen Maler, der sich wegen Corona noch weiter zurückzog und Reisen vermeidet, wie BA-Kunstforum-Direktorin Ingried Brugger weiß. Trotz der Widrigkeiten – weniger Besucher, komplizierter Leihver- kehr – wollte sie diese für Wien und Zürich so wesentliche Ausstellung unbedingt durchziehen. Mit Laufzeiten, die man sich früher nicht zu erträumen gewagt hätte: Bedingt durch den pandemieverlangsamten Leih- und Sonderausstellungsbetrieb werden die rund 150 Exponate von 50 Leihgebern, darunter 80 Gemälde, fast ein Jahr lang unterwegs sein.
Eine opulente Tournee, die unter den neuen gesellschaftlichen Vorzeichen inhaltlich eine völlig unerwartete Relevanz bekommen hat. So beunruhigend wirkt diese Zusammenschau von ausgestorbenen, nur durch Versatzstücke der Zivilisation subtil unterwanderten Landschaftsidyllen plötzlich. Obwohl kontinuierlich über fast ein halbes Jahrhundert entstanden, wirken sie in diesem Ausnahmejahr 2020 wie wunderschöne, aber wissende Begleiter durch unsere neue, stillere Welt. Schwer, bei derlei Überlegungen einem gewissen Pathos zu entkommen – tauchen diese apokalyptisch ausgestorbenen Kulturlandschaften nicht wie Vorahnungen unserer traumatischen Verunsicherung aus ihrem verunklärenden Nebel auf?
Auch die Kuratorin der Wiener Ausstellung, Lisa Ortner-Kreil, hat diese neue Aktualität beim Schreiben ihres Katalogtexts im Lockdown dieses Frühjahr kalt erwischt, erzählt sie. »Die Welt ohne uns«, heißt daher auch der Titel ihres Beitrags. Unsere bewusste Wahrnehmung einer Verlangsamung, un-ser Problem damit, Zweifel und Ungewissheit prinzipiell zuzulassen – bei gleichzeitig steigender Skepsis gegenüber Medienbildern, das alles spiegelt sich für Ortner-Kreil in diesen Arbeiten.
Von 1963 datieren die ersten eindeutigen Landschaftsmotive bei Richter, noch im strengen Schwarzweiß dieser ersten Zeit. Er fand sie auf Postkarten, in Büchern, Zeitungen, verschleierte zwar ihre Optik, nicht jedoch ihre Vorlagen – beim allerersten Landschaftsbild Alster etwa, das klar als Zeitungsbild erkenntlich ist. Oder bei den vier Touristen-Ansichten der Ägyptischen Landschaft (1964), die er auch in der Seiten-Aufteilung so malte, wie er sie offensichtlich in einem Bildband gefunden hatte. Immer geht es hier um das distanzierte Betrachten eines medialen Phänomens, nie um die direkte Emotion oder gar Naturerhabenheit, immer um unseren kultivierten Blick auf diese Emotion beziehungsweise unsere Konstruktion dieser Erhabenheit.
Ab 1968 verwendete Richter dann seine eigenen Fotografien als Vorlagen. Oft waren es schnappschussartige Aufnahmen, die er aus Urlauben mitbrachte, beginnend mit dem ersten Familienurlaub auf Korsika. Man findet all diese Fotos in Richters Vorlagensammlung Atlas, meist sind es bewusst amateurhaft wirkende Bilder, eine Ästhetik, die Richter bevorzugte, wie er schon 1966 betonte: »Ich finde manche Amateurfotos besser als den besten Cézanne.« Manche mögen Richters Gemälde gar besser finden als die von Caspar David Friedrich, mit dessen Ästhetik er uns in seinen großformatigen, leeren Landschaftsbildern mit ihren niederen Horizonten und weiten Himmeln gerne triggert. So über ihre profane Funktion erhaben hat sich die Ruhrtalbrücke (1969) jedenfalls nie wieder über das Flussbett und das morgendlich errötete Firmament erstreckt. So existenziell herausgefordert hat sich das Verkehrsschild auf der verlassenen Landstraße bei Hubbelrath (1969) noch nie der aufziehenden Wolkenfront entgegengereckt. So aufgewühlt hat sich noch nie ein Himmel über dem Meer gekräuselt wie in den Seestücken (1968/70), denen in der Ausstellung ein ganzer Raum gewidmet ist – für die zwei See-See genannten Bilder hat Richter einen fast surrealistischen Collagetrick benutzt und die Meeresoberfläche, auf den Kopf gestellt, kurzerhand auch zum Himmel gemacht. »Kuckuckseier« nannte Richter diese romantisierenden, speziell die – wie Richter lang in Dresden lebenden – Caspar David Friedrich mitdenkenden Serien seiner ersten intensiveren Landschaftszeit in den späten sechziger Jahren. Ausgerechnet damals, als Malerei politisch sein musste, um nicht als tot zu gelten, hatte er plötzlich »Lust, etwas Schönes zu malen«, wie er verkündete. Eine zugegeben etwas durchsichtige Provokation. Waren die tatsächlichen Anlässe, die Richter zu seinen großen Landschaftsserien brachten, doch eher privater Natur, meist von künstlerischen wie privaten Enttäuschungen getrieben, entnimmt man Dietmar Elgers Biografie Gerhard Richter, Maler. Etwa von Richters Begegnung mit der amerikanischen Minimal- und Konzeptkunst: »Die Bilder waren bestimmt nicht gegen die Minimal Art, sondern eher so etwas wie eine Resignation, denn auf deren Feld hatte ich sowieso nichts verloren. Dann mache ich doch das, was mir Spaß macht, dann bin ich eben ein komischer Kauz, der romantische Stimmungen malt, und gehöre nicht mehr dazu.«
Auch dieses Zitat ist ein Kuckucksei. Wie so oft widerspricht sich beziehungsweise relativiert Richter eigene Aussagen später, auch hier frönt er dem Prinzip der Verunsicherung. Denn »romantische Stimmungen« aus der Kunstgeschichte zu reproduzieren war natürlich nicht sein (alleiniges) Ziel. »Meine Landschaften sind ja nicht nur schön oder nostalgisch, romantisch oder klassisch anmutend wie verlorene Paradiese«, sagte er 1986 in einer der seltenen ausführlicheren Aussagen über dieses Thema, »sondern vor allem ›verlogen‹ (wenn ich auch nicht immer die Mittel fand, gerade das zu zeigen), und mit ›verlogen‹ meine ich die Verklärung, mit der wir die Natur ansehen, die Natur, die in allen ihren Formen stets gegen uns ist, weil sie nicht Sinn, noch Gnade, noch Mitgefühl kennt, weil sie nichts kennt, absolut geistlos, das totale Gegenteil von uns ist, absolut unmenschlich ist. Jede Schönheit, die wir in der Landschaft sehen, jede bezaubernde Farbigkeit, Friedlichkeit oder Gewalt einer Stimmung, sanfte Linienführung, großartige Räumlichkeit und was weiß ich, ist unsere Projektion, die wir auch abschalten können, um im selben Moment nur noch die erschreckende Grässlichkeit und Hässlichkeit zu sehen.« Anders als bei Caspar David Friedrich, der mit seinen Landschaften samt in ihr stehender Rückenfigur zur Betrachteridentifikation die »Erhebung des Geistes« zum Ziel hatte, will Richter uns zur Hinterfragung genau dieses gelernten Gefühls des Erhabenen führen. Dazu macht er nicht nur einen Schritt, wie Friedrich, sondern zwei Schritte zurück – er verzichtet bewusst auf die friedrichsche Rückenfigur und schiebt uns, vor dem Bild stehend, diese Rolle zu. Wir beobachten also im besten Fall uns selbst dabei, wie wir diese Landschaft beobachten, wie wir freudig in Richters zärtliche Falle der Schönheit tappen. Ist doch alles nur Konstruktion, dieser unser hier fast schon fies vorgeführte Hang zum Eskapismus, zum innerlichen Rückzug in der Not, zur Suche nach einem Größeren, Sinngeben- den, wie es den Menschen in Romantik und Biedermeier schon Trost vorgegaukelt hat.
Aber auch Richter selbst ist vor dieser Sehnsucht nach erprobten, sentimentalen Strategien nicht völlig gefeit, was ihn fast nahbar scheinen lässt: Interpretiert Elger gerade die zwei Hauptphasen von Richters Auseinandersetzung mit der Landschaft nämlich vor dem Hintergrund des Scheiterns seiner ersten beiden Ehen: Nach der Trennung von Ema begann Richter 1981 Fo-tos seiner länger zurückliegenden Grönlandreise zu dramatischen Eisbergbildern zu verwandeln. Und 1985, als es mit Isa Genz- ken zu kriseln begann, malte Richter aus einem Gefühl der Einsamkeit heraus, wie er zugab, farbsatte, dunkle, trübe Landschaftsausschnitte. Etwa das regenverhangene Wiesental, das aus der MoMA-Sammlung nach Wien und Zürich reist.
Doch nicht nur gegenständliche Landschaften, auch abstrakte, mit Landschaften nur noch assoziierbare Stadt- und Landschaftsbilder, wie das fast sieben Meter breite Sankt Gallen (1989) haben Ortner-Kreil, Butin, und für das Kunsthaus Zürich, Cathérine Hug, versammelt. Auch nicht nur Gemälde, sondern eben auch Fotos, Zeichnungen, sogar eine Skulptur – eine zur glänzenden Metallkugel abstrahierte Landschaft (Edition aus 1992) findet sich. Rechne man alles zusammen, mache das Landschaftsmotiv etwa ein Fünftel des Gesamtwerks aus, schätzt Ortner- Kreil. Das scheint nicht viel. Aber: Kein anderes Motiv habe Richter wie die Landschaft über so einen langen Zeitraum so nachhaltig fasziniert, beschreibt es schon Elger in sei- ner Richter-Biografie. Ihre Bedeutung liege nicht in ihrer Quantität, sondern im »herausragenden Stellenwert« im Werk – und die- ser habe »noch nicht die angemessene Würdigung erfahren«. Nur wenige Ausstellungen gab es im deutschsprachigen Raum explizit dazu, eine im sprengel-Museum Hanno- ver 1998 und davor eine kleine im Essener Kunstverein Ruhr 1994. So können jetzt ausgerechnet die bisher selbst als weiße Flecken in Gerhard Richters Ausstellungslandkarte geltenden Städte Wien und Zürich diese weißen Flecken der inhaltlichen Beschäftigung mit seinem Werk schließen. //