Georg Baselitz

Ich, Ich, Ich
Er ist bereits über die 80, doch Georg Baselitz ist kaum nach Rückschau zumute. Ein Spätwerk zu schaffen, das den früheren Arbeiten standhält, begreift der Maler jetzt als letzte große Aufgabe
Text: Heinz Peter Schwerfel / ART 2/2017
Venedig, im Mai 2015. Der lange Marsch durch die 56. Biennale beginnt im Arsenale-Teil der Ausstellung in einem Gemisch von Aggression und Schönheit. Ein eindringlicher Start mit bunten Flackerneons zu Tod und Gewalt von Bruce Nauman, davor in den Boden gerammte Säbel-Skulpturen von Adel Abdessemed. Doch von da an geht’s bergab. Ein immer stärker zerfransender, labyrinthischer Parcours durch Dutzende künstlerischer Statements von Künstlern aus der ganzen Welt. Selbst herausragende Werke gehen in der Menge unter – es bleibt ein überbordendes Angebot von sich in den Raum fressenden Farbfeldern, Theatereffekten, begehbaren Videoräumen, Skulpturen mit und ohne Sockel. Der Betrachter verliert sich, die Aufmerksamkeit lässt nach.
Doch dann kommt Baselitz. Ganz am Ende der langen Arsenale-Halle stößt der Besucher auf einen für Venedig ungewohnten Raum der Stille: ein aufgeschnittenes Achteck mit riesigen Gemälden, die allesamt dieselbe Figur zeigen, einen schlacksigen Greis in Weiß und hautfarbenem Rosagemisch auf schwarzem Grund. Gegenständliche Malerei mit expressivem Gestus – ein Anachronismus auf der Bühne der aktuellen Gegenwartskunst. Dünne Altmännerbeine, nach unten gekippter Kopf, auf manchen Bildern ein leuchtend rotes Geschlecht – acht Selbstporträts des damals 77-jährigen Georg Baselitz. Der sich selbst als nackten Greis malt, frei nach einem Foto, geschossen von seiner Frau Elke im ehelichen Schlafzimmer.
Kunst als intime Selbstentblößung, als existenzieller Kraftakt, vor allem aber – als Zeugnis der Malerei selbst, die, regelmäßig totgesagt, immer wieder auferstanden ist. Baselitz’ gemaltes Ich hat nicht nur einen uns fremden Körper, es ist auch Fremdkörper inmitten des lauten Spektakels eines kulturellen Großereignisses. Sentimentaler Sand im Getriebe der Weltkunst, die hier auftritt unter dem programmatischen Titel »Alle Zukünfte der Welt«? Oder eine als Paukenschlag gedachte Selbstinszenierung?
»Ich wusste natürlich, was da stattfindet, wie eine Venedig-Biennale oder eine documenta funktionieren«, erzählt Baselitz zwei Jahre später in seinem bayerischen Atelier und kann sich dabei ein Lächeln nicht verkneifen. »Deshalb habe ich gar nicht erst den Versuch gemacht, brav mitzuspielen und mich entsprechend einzuordnen. Ich hatte diese Bilder bereits gemalt, die standen hier bei mir im Atelier, als der Biennale-Kurator Okwui Enwezor mich besuchte. Die Bilder waren fertig und überhaupt nicht vorgesehen für eine solche Ausstellung.«
Die Bilder waren ein Schock und eine Offenbarung – nicht nur für das Publikum, sondern auch für jenen Großsammler, der sie noch in den Tagen der Eröffnung erwarb. Keine große Überraschung, denn seit Jahren schon verkauft Hans-Georg Kern, 1938 geboren im sächsischen Deutschbaselitz, jedes Bild, welches das Atelier verlässt. Trotzdem gelingt es ihm, sich als Außenseiter des Kunstbetriebs zu fühlen – immer noch, da er zu wenig Beachtung finde, wie er sagt, vor allem seitens der Kritiker. Was so nicht stimmt. Aber als Künstler lebt er nun mal vom imaginierten Gegenwind, reibt sich an den Prot- agonisten der Kunstgeschichte und denen der Gegenwart zugleich. Das war in den späten fünfziger Jahren so, als Picasso in der DDR verpönt und der Sozialistische Realismus Gesetz war. Oder in den Sechzigern, als in der Bundesrepublik nach dem abstrakten Informel US-amerikanische Pop Art den Markt stürmte.
Damals kippte Baselitz seine Bilder um, malt die Motive seither auf dem Kopf stehend. Die Verkäufe blieben erst mal aus. Ab den späten Siebzigern lief es besser. In den achtziger Jahren begannen die internationalen Museen ihn zu feiern – allerdings als Vater jener Neuen Wilden, mit denen er nun gar nichts zu tun hatte. Baselitz schien nie irgendwo wirklich hineinzupassen; zugleich waren seine Bilder sofort erkennbar.
Heute hat der Künstler Frieden geschlossen. Auch mit der Kunstgeschichte, mit je- ner Tradition deutscher Malerei, die er 1987 als »die Tradition der hässlichen Bilder« bezeichnete, »von Dürer über Caspar David Friedrich zu Nolde«, da Deutschlands Kunst von »Chaos und Unvermögen« geprägt sei. Von den Handicaps der Vorgänger schloss er gleich auf seine eigenen, »zum Beispiel dem Unvermögen, gut zeichnen zu können«. Anmalen gegen den Zeitgeist und eigenes Unvermögen, gegen das angeblich mangelnde Talent zum Schönzeichnen: Damit kommt Baselitz längst klar. Nicht nur den Erfolg von Vorgängern, sondern sogar den der Konkurrenten – also Zeitgenossen – kann er heute tolerieren. Denn längst hat er ein ganz an- deres Problem, als sich über die kurzlebigen Auktionskometen eines launischen internationalen Kunstmarkts aufzuregen: Baselitz arbeitet an seinem Alterswerk.
In der Mitte des hellen Ateliers mit Blick auf den Ammersee ist der Holzboden farbverkleckst. Zwei Sessel zum Anschauen der fertigen Bilder stehen herum, eine Récamiere zum Lesen. Keine einzige Staffelei – Baselitz malt grundsätzlich auf dem Boden, sucht den Kontakt zur Erde. An den Wänden lehnen Hochformate mit reduzierter Farbpalette, auf der Schwarz und Weiß klar dominieren, aber auch Wolken von Rosa auffallen. Die Figuren dick aufgetragen, das Pastose mit dünnen schwarzen Pinsel- oder Federstrichen in die Farbmasse hinein betont. Andere Motive – neben den nach Foto gemalten Portäts von sich und Elke – sind rare Wiederaufnahmen alter Werke, doch nicht mehr transparent und hell gemalt wie die 2005 begonnene Remix-Serie, sondern dicht und massiv. Die Themenwahl ist ebenso eingeschränkt wie die Palette, Sprünge zwischen den Genres Porträt, Landschaft, Stillleben gibt es nicht mehr. Selbst die vom Maler sehr geliebten Hundemotive kommen nur noch in der Grafik vor, nicht auf den Bildern.
»Das Alterswerk«, sagt Baselitz und wird sehr nachdenklich, »ist natürlich das, was mich heute am meisten interessiert. Das steht an allererster Stelle.« Zu gut kennt er sich aus in der Kunstgeschichte, um dieses Problem nicht einschätzen zu können. »Es gibt gescheiterte Alterswerke, die vernichtend sind, grauenvoll, die man lieber nicht sehen würde. Aber es gibt sie. Warum sollte ein Maler auch aufhören zu malen? Und manchmal fehlt eben auch die Distanz, die Selbstkritik, die Intelligenz – die nimmt ja vielleicht auch ab mit dem Alter –, um das Alterswerk selbst zu beurteilen. Viele Künstler sind gescheitert mit ihrem Alterswerk, aber andere haben wunderbare Sachen daraus gemacht.«
Dazu zitiert er Matisse, auch Picasso, auf dessen legendäre erotische Altersausstellung im Papstpalast von Avignon 1970 einige Titel der in Venedig gezeigten Bilder hinweisen. Und er, der vor fünf Jahren die Arbeit mit der Kettensäge an großen Baumstämmen aufgeben musste, weil der Rücken nicht mehr mitmachte, erzählt von seinem Kampf gegen physische Einschränkungen, von den Krankheiten und Anfälligkeiten eines alternden Körpers. »Bei all den Problemen, die ich manchmal habe, während aller Krankheiten und Depressionen und Zusammenbrüche, gehe ich in meine Bibliothek und schaue mir an, wie die anderen – Maler, aber auch Literaten – das bewältigt haben. Und dabei geht es mir wirklich noch relativ gut.« Der große Un-terschied zu diesen anderen: Georg Baselitz kämpft nicht nur gegen das Altern an, er macht es zu seinem Thema.
»Ich male mich heute, vielleicht auch aus Zynismus, häufiger denn je, und fast immer in schlechtem Zustand. Und meine Frau ebenso. Das sind die Bilder der letzten Jahre. Da kann man alles Mögliche erkennen, Krankenhausaufenthalte daraus lesen, nur Himmelfahrten gibt es noch keine – aber es sind in dieser Zeit schon merkwürdige Sachen entstanden, vor denen ich mich früher gefürchtet hätte. Das Wichtigste aber ist, dass die Bilder gut geworden sind.«
Baselitz resigniert nicht und sieht nicht schwarz, er malt schwarz. Bilder, die in ihrer schweren Dinglichkeit anschließen an die letzten Skulpturen, übergroße, mattschwarze Bronzen von sich und seiner Frau. Er und Elke, untergehakt, gebrochen heroisch, wie die Protagonisten seiner Helden-Bilder aus den sechziger Jahren, also ein wenig lächerlich und deutlich angeschlagen. Gebeutelte Helden, stilistisch Folklore und Volkskunst nahe, leicht ungelenk in der Körperhaltung.
Baselitz sammelt afrikanische Skulptur und manieristische Grafik, er besitzt eine vorzügliche Bibliothek, kennt die Kunstgeschichte wie kaum ein anderer Künstler und hat sie nie aus den Augen verloren. Vor allem aber war er immer ein Maler des eigenen Lebens, seiner Zustände, Erfahrungen, Probleme, Kämpfe. Kindheit im Zweiten Weltkrieg, Jugend in der DDR, die Wiederentdeckung der Heimat nach dem Mauerfall, das Hineinmalen in die eigene Vergangenheit dank wiedergefundener Familienfotos. »Ich brauche kein weiteres Tagebuch zu schreiben, ich habe meine Bilder und Zeichnungen. Und kann die diversen Lebensabschnitte so regelrecht abrufen, auch wenn es nicht immer gelingt, die Atmosphäre beispielsweise von besonders glücklichen Zeiten noch einmal zu beschwören. Zumindest habe ich die Ergebnisse, und die gehören mir.«
Aufblättern eines künstlerischen Lebenswerks, das Spiegel nicht nur der Karriere, sondern des eigenen Lebens ist: »In meiner Jugend und Studienzeit beherrschte Paris die Kunstwelt, dann wurde Amerika dominant. Und einer solchen Dominanz kann man sich entweder unterordnen, oder es muss einem etwas einfallen, wie man sich durchsetzen könnte. Und ich hatte nie eine andere Idee, als dass dieses Durchsetzen nicht etwa die Qualität, sondern den Inhalt betreffen musste. Und dieser Inhalt war biografisch. Das hatte nichts zu tun mit Politik oder mit Utopie, mit Visionen. Und dafür musste man erst ein paar Schritte zurückgehen, um dort den Grund für diesen Inhalt zu finden.«
Lange hat sich Baselitz geweigert, dieses Biografische zu erklären. Gegen präzise inhaltliche Deutungen hat er sich immer gesperrt. Lediglich zu berühmten Ausbrüchen wie dem »Pandämonischen Manifest« oder dem Skandalbild Die große Nacht im Eimer (1962/63) nimmt er inhaltlich Stellung: Er erzählt dann von seiner früheren Wut und von den künstlerischen Grabenkriegen seiner Anfänge, als die Abstraktion gegen den Realismus stand. »Wenn Sie mit so einem Müll aufwachsen, dann können Sie das nicht von Anfang an lachend beiseitetun, sondern Sie sind betroffen, Sie müssen da einen Weg heraus finden. Und dieser Weg war bei mir ganz besonders heftig, weil ich gleich verstanden hatte, dass das alles Quatsch war, eine unglaubliche Doktrin, und so kunstfeindlich. Doch ging die Befreiung bei mir nicht nach vorne los, voller Optimismus, sondern nach hinten, mit tiefem Pessimismus. Das hat lange, lange angehalten. Und jetzt ist es vorbei.«
Baselitz ist jetzt ganz bei sich. Sagt er. Und fügt nachdenklich hinzu, dass »die Wichtigkeit des Autobiografischen ja eigentlich etwas ist, das eigentlich auf alle Maler zutreffen müsste.« Mild ist er geworden. Vorbei sind die Zeiten solch rabiater Statements: »Ich bin ein Bürger, ich habe eine Frau, ich habe zwei Kinder, ich führe ein braves Leben. Aber wenn ich Bilder male, bin ich eigentlich außerhalb der Gesellschaft.« Da sei er »wie ein Mörder«, hatte er hinzugefügt. Dem Ruf als verbales Raubein ist Baselitz lange treu geblieben, wenn er etwa in Presseinterviews mit provozierend formulierten Attacken seinen ganz persönlichen Krieg gegen die Gegenwartskunst führte: Da nannte er die in der DDR verbliebene Malergeneration »Arschlöcher«, verspottete die documenta als »Paralympics« oder sprach allen Frauen pauschal jedes Talent zum Malen ab.
Fragt man ihn heute nach dieser Aggressivität, nennt er seine früheren Statements »vielleicht ein wenig überhoben oder schwierig oder blöd«. Jeder junge Künstler, sagt er, müsse sich seinen eigenen Weg suchen. Und das sei heute noch viel schwieriger geworden, denn »wir leben in Zeiten des Manierismus«. Womit er die Unübersichtlichkeit und Willkür einer Kunstszene mit vielen gefestigten – und gefeierten – Positionen meint. Seine hat er früh gefestigt, und jetzt ist er selbst Teil der Kunstgeschichte. Das weiß er, und daraus resultiert jetzt, kurz vor dem 80. Geburtstag, auch eine gewisse Gelassenheit.
Die wiederum endet jedes Mal, wenn er sich über die nächste weiße Leinwand beugt. Das Alterswerk lockt. Die Suche des Georg Baselitz nach dem »neuen Bild« ist noch lange nicht vorbei. //