Documenta 13: Madame Maybe

Das Friedericianum zur Documenta 2012, Foto: Commons / Cindybeau

Ihr Lieblingswort lautet „vielleicht”. Möglichst wenig klare Aussagen wollte die documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev vorab abgeben – sie fürchtete, man könnte ihre Schau banalisieren. So verwirrte sie das Publikum mit ihren Statements, während die Künstlerliste bedrohlich anwuchs. Porträt einer Frau, die es sich und anderen nicht gerne leicht macht

TEXT: RALF SCHLÜTER

Es ist der erste sonnige Tag des Jahres in Kassel. Noch etwas frühjahrsmüde ziehen ein paar Jogger ihre Runden durch den weitläufigen Karlsaue-Park; die Orangerie hat Tische nach draußen gestellt. An einem von ihnen sitzt Carolyn Christov-Bakargiev, künstlerische Leiterin der documenta 13, vor einem üppigen Salat mit Lachsstreifen, den sie bisher nicht angerührt hat. Es gibt Wichtigeres als den Frühling, die Sonne oder das Essen. Die Hundekiller von Kiew zum Beispiel.

Am Tisch sitzen documenta-Leute, Christov-Bakargiev, Sponsoren. Die künstlerische Leiterin berichtet, dass in der Ukraine streunende Hunde jetzt massenhaft eingefangen und getötet würden. „Wegen der blöden Fußball-EM!”, ruft sie in die Runde. „Und gleichzeitig wollen sie jetzt dort eine Biennale veranstalten. Habt Ihr mal über diesen Widerspruch zwischen Kunst und Leben nachgedacht?” Als sich die Künstler – angereist aus Indien, China, Afghanistan – ratlos anblicken, ergänzt die Chefin noch ein paar Ausführungen zum feministischen Tierbegriff sowie einen Exkurs über das Mischwesen in der Literatur von Frauen seit Mary Shelley; und schließlich kommt auch ihr eigener Hund ins Spiel, der freundliche Malteser Darsi, der während der Debatte unter dem Tisch liegt.

Für Carolyn Christov-Bakargiev hängt alles mit allem zusammen. Banale Themen gibt es nicht, höchstens mal einen unbeachteten Salat. Ihre Symbiose mit dem Haustier Darsi hat längst den Rang eines philosophischen Projekts erreicht, „ich frage mich, wie sieht eigentlich mein Hund die Welt? Oder wie sieht er die Kunst?” Die Stellung des Menschen in der Welt müsse zu Gunsten anderer Lebewesen relativiert werden, meint Christov-Bakargiev. Zur documenta brachte sie einen Hundekalender heraus: Künstler präsentierten die schönsten Fotos ihrer Lieblinge.

Dass zwischen Tierliebe und Erkenntnistheorie ein so enger Zusammenhang bestehen soll, leuchtet nicht jedem auf Anhieb ein. Das wiederum ist Christov-Bakargiev herzlich egal – die Überforderung der anderen nimmt sie lächelnd in Kauf. Wer ihr zuhört, weiß oft nicht, ob er eine These jetzt ein bisschen obskur finden soll, oder ob er einfach den korrekten Kontext aus Philosophie, Kunstgeschichte oder feministischer Theorie gerade nicht parat hat. Der Name Carolyn Christov-Bakargiev immerhin lässt sich abkürzen, unkompliziert machen: die meisten Mitarbeiter nennen sie einfach CCB. Das klingt ein wenig wie der Name einer Partei. Und Parteien sind dazu da, die Welt zu erklären.

Vielleicht geht es im Grunde darum: Die globalisierte Kunstszene ist unüberschaubar geworden – was bleibt, sind Ordnungsversuche. Thesen. Die documenta als Welterklärung mit den Mitteln der Kunst. Es ge hört schon etwas dazu, eine solche Rolle beherzt anzunehmen.

Ihre Mitarbeiter nennen Carolyn Christov-Bakargiev einfach CCB. Das klingt wie der Name einer Partei – Parteien sind dazu da, die Welt zu erklären

Die Welt war von Anfang an groß für Carolyn Christov-Bakargiev. 1957 wurde sie in Ridgewood, New Jersey, geboren. Ihr Vater stammte aus Bulgarien, die Mutter aus Italien – schon bald nach ihrer Geburt ließen sich die Eltern scheiden, Carolyn blieb bei der Mutter, die inzwischen als Archäologin in der Hauptstadt Washington arbeitete. „Ich bin aufgewachsen mit römischen Vasen “, erzählt sie und bezeichnet ihre Mutter als größten Einfluss: den „archäologischen Blick” habe sie von ihr. Zugleich lernte sie früh die Kunst von Jackson Pollock und der amerikanischen Nachkriegsmoderne kennen, im Haus verkehrten Maler aus der Umgebung. Und politisierte Studenten: Carolyns Jugend fiel in die Zeit der Jugendrebellion und der Proteste gegen den Vietnamkrieg, sie besuchte zusammen mit ihrer Mutter die großen Demonstrationen am Kapitol. Drei Monate im Jahr verbrachte sie bei der Familie der Mutter in Italien – es war dieses Nebeneinander, das für ihr Leben bestimmend sein sollte: zeitgenössische Kunst und Römervasen, politische Proteste und Fragen nach Erkenntnis, die Neue Welt und das alte Europa. „Ich bin entweder sehr altmodisch oder ganz weit vorne”, sagt sie.

Später ging sie zum Studium nach Frankreich, wechselte aber nach zwei Semestern an die Universität von Pisa, „ich hatte mich dort in einen Mathematik-Dozenten verliebt”. Sie studierte Literatur und Kunstgeschichte. Nebenher interessierte sie sich für feministische Theorie, Ökonomie, Quantenphysik. Und Politik: So heuerte sie bei der linken Zeitschrift „Lotta Continua” (Ständiger Kampf) an, schrieb dort eine Kunstkolumne. Ihre universalen Interessen passten bestens zum neuen Berufsbild des Kurators, das seit den siebziger Jahren immer mehr an Kontur gewonnen hatte. Harald Szeemann war eines ihrer Vorbilder, er hatte den neuen Typus des rundum vernetzten und interessierten Denkers und Ausstellungsmachers quasi erfunden. „Ich kannte ihn gut”, erzählt Christov-Bakargiev stolz, „er hat mich als junge Kuratorin sehr gefördert.”

Ende der neunziger Jahre verbrachte sie noch einmal ein paar Jahre in Amerika. Sie arbeitete als Leitende Kuratorin am MoMAAbleger PS1 in New York, der erste große Karriereschritt. 2002 kehrte sie nach Italien zurück und übernahm die kuratorische Leitung des Museums Castello di Rivoli in der Nähe von Turin. In den Sälen des alten Schlosses zeigte sie Janet Cardiff, Mario Merz, Lawrence Weiner, Franz Kline. Die italienische Arte Povera wurde zu ihrem Spezialgebiet, deren bewusst ärmliche Arrangements hatten viel mit den Vasen ihrer Kindheit zu tun; amerikanischer Minimalismus kam hinzu. Eine Kunstauffassung hatte sich herausgebildet, die man vielleicht franziskanisch nennen könnte: Christov-Bakargiev misstraut der visuellen Attraktion, schätzt das Karge, Archaische, Konzeptuelle – es ist kein Zufall, dass die vorab aufgestellte Baumskulptur von Giuseppe Penone in der Karlsaue das programmatische erste Werk der documenta 13 wurde. Im Jahr 2008 war sie reif für ihren ersten großen internationalen Auftritt: Die Sydney-Biennale, ein Mammutprogramm mit mehr als 180 Künstlern, wurde ein Erfolg. Kurz darauf wählte sie eine Auswahlkommission zur Leiterin der Kasseler Weltkunstschau.

Eines ihrer Vorbilder ist der große Universalist und Kurator Harald Szeemann. „Er hat mich als junge Kuratorin sehr gefördert”, sagt sie

Schon bald zeigte sich, dass Carolyn Christov-Bakargiev das nötige Selbstbewusstsein für den Job hatte. Ihre Auftritte absolvierte sie mit italienischem Temperament: Der im Kunstbetrieb üblichen schwarz-grauen Outfit-Tristesse setzte sie gerne mal rote Brillen und bunt gepunktete Blusen entgegen, unter dem blond gelockten Haar ist ein optimistisches Lächeln fest installiert. Im September 2009 inszenierte sie eine symbolische Stabübergabe, indem sie alle noch lebenden Leiter von früheren documenten in ihr Turiner Museum zu einer Konferenz einlud. Auf dem Gruppenfoto, das damals entstand, sehen die Helden von Kassel aus wie eine leicht zerzauste Gruppe von Bildungsreisenden: Roger M. Buergel mit Pullover um die Schultern geworfen wie ein Gymnasiallehrer beim Bummeln in Pisa, Catherine David bleich und distanziert wie ein Gespenst aus der Vergangenheit. Mittendrin steht die Gastgeberin mit einem roten Blazer und strahlte über beide Ohren, als wollte sie sagen: Ich bin die Zukunft! Schon immer hat sich Christov-Bakargiev gerne mit Künstlern umgeben, mit denen sie freundschaftlich oder auch mütterlich streng umgeht – die Gespräche mit ihnen bilden den Kern des Prozesses, an dessen Ende die Ausstellung steht. Zusätzlich wurde in Kassel ein imposanter Personalapparat aufgebaut: mit Co-Kuratoren, die verschwörerisch „Agenten” heißen und einem riesigen Stab an künstlerischen und wissenschaftlichen Beratern, deren Gedanken und Recherchen in „100 Notizen – 100 Gedanken” ausgebreitet werden (siehe Seite 76). Erstaunlich, wie Christov-Bakargiev dieses wuchernde Großgebilde persönlich prägt und immer wieder auch überfordert: Wer einmal gehört hat, wie sie per Skype mit einem Mitarbeiter in epischer Länge über die Farbe einer Broschüre diskutiert hat, weiß, dass es wirklich nichts Banales in ihrer Welt gibt.

Schon schwieriger ist es für sie, aus den Höhen der Welt- und Kunstfragen den Funkkontakt zur Erde zu halten. Ihre Vorträge, bei denen sie ihre Gedankenketten kunstvoll zelebriert, hinterließen bei vielen Zuhörern den Eindruck, sie wolle nur Nebelkerzen werfen und sich bewusst nicht verständlich machen. Kurz hintereinander mussten zwei Pressesprecher gehen, die „Chemie” hatte nicht gestimmt. Bei der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr las sie den versammelten Gästen ihres Verlags einen langen Text des deutschen Schriftstellers Alexander Kluge vor – auf Englisch und in einem ziemlich hohen Tempo. Im Saal betretene Gesichter: Hätte man das jetzt verstehen müssen?

Sie selbst betrachtet die Uneindeutigkeit und Weitläufigkeit ihrer Gedanken als Teil ihres Ethos. Ihr Zauberwort lautet „maybe” – vielleicht. Es soll die Dinge in der Schwebe halten. Es ist ihre Waffe gegen das, was sie am meisten verabscheut: die Konsum- und Medienkultur mit ihren eingängigen, verdummenden Botschaften und Bildern. Um nicht festgelegt zu werden, weigerte sie sich standhaft, klare Auskünfte zu geben – selbst das manifestartige Statement, das wir auf dieser Seite dokumentieren, trägt zur Aufhellung ihrer Ideen nur wenig bei.

Carolyn Christov-Bakargiev ist sicher keine Frau fürs Volk; aber sie nimmt die Kunst ernst als Trägerin eines alten, wertvollen Wissens, das auch die Perspektive auf Zukunftsfragen verändern kann. Fast alle Werke, die auf der d 13 gezeigt werden, sind eigens dafür entstanden, die mittlerweile 150 Künstler (ursprünglich sollten es 100 sein) sind angeregt und verbunden durch die Gedankenfabrik Christov-Bakargiev.

Der Anspruch ist hoch: Eröffnet die documenta den Weg zu einer neuen, skeptisch-neugierigen Weltsicht? Oder sehen wir in Kassel doch die Kunst, wie wir sie kennen? Sind all die merkwürdigen Gedanken, etwa die neue Symbiose mit anderen Lebewesen, auf einmal überraschend plausibel? Oder bleibt Darsi, was er bis jetzt noch ist: ein ganz normaler Hund?