Biennale 2017: Viva Arte Viva

So lautet das Motto der Venedig-Biennale in diesem Jahr. Kuratorin Christine Macel will die Freiheit der Kunst feiern und lädt ein zur Reise in die Traumwelt der Künstler. In Zeiten globaler Unordnung vertraut sie auf die Kraft des Utopischen

TEXT: HEINZ PETER SCHWERFEL

Der Weg ist das Ziel, lehrt uns der Taoismus, eine der drei Lehren Chinas neben Konfuzianismus und Buddhismus, die in unseren Zeiten existenzieller Zielstrebigkeit leider aus der Mode gekommen zu sein scheint. Allzu lange blieb die Erkenntnis von Laotse und seinen Schülern verdrängt, dass die Erfahrung von Bewegung wichtiger sei als das eigentliche Ankommen. Bis Christine Macel ins Rampenlicht trat und uns an die Wichtigkeit des erkenntnisfreien Augenblicks erinnert. Wir sollen wieder glauben, sagt Macel: an die Gegenwartskunst, die Kraft des Werks, an die Schönheit der Begegnung. Genau darum geht es auf der 57. VENEDIG-BIENNALE: Um Vertrauen, Hingabe, kurz: den Glauben an die Kunst.

Macel will in Venedig keine gewöhnliche Ausstellung, kein übergreifendes Thema, keine Leitmotive. Sie sieht Kunst als Weg und Ziel zugleich. Das entspricht ihrem eigenen Parcours, dem Lebensweg einer 1969 in Paris geborenen Studentin der Kunstgeschichte, die bereits in jungen Jahren in die Abteilung für bildende Kunst des französischen Kulturministeriums einsteigt und sich dort um die Ankäufe des Fonds national d’art contemporain kümmert. Das ist immerhin eine der bedeutendsten Sammlungen Europas, ein Werkzeug, mit dessen Hilfe der französische Staat Kunst, Künstler und heimische Galerien am Leben hält. Macel steht zur Kunst und – bei aller Kritik – auch zum Kunstbetrieb. Sie hält Kunst für die »kostbarste Gabe des Menschen«, für ein zutiefst humanistisches »Ja zum Leben«.

Kunst als Hoffnungsträger in krisengeschüttelten Zeiten, als letzter Wall gegen kollektive Indifferenz und kommerziellen Popanz? So lautet seit dem Jahr 2000, in dem sie als Chefkustos für Zeitgenössisches am CENTRE POMPIDOU anfing und gleich neben einer eigenen Abteilung für »Prospektives«, also Künftiges, auch den dazu passenden Ausstellungsraum erkämpfte, ihr Credo. Das bringt sie nun auch mit nach Venedig. Und muss es mit blumigen Worten in Pressekonferenzen rund um den Globus verkaufen. Was sie mit Charme macht, aber ohne Begeisterung. Die große Bühne des Kunstbetriebs ist ihre Sache nicht, auch wenn die Berufung an den Canal Grande eine wichtige Sprosse auf der Karriereleiter sein kann. Die VENEDIG- BIENNALE ist eine wirtschaftliche Großveranstaltung, die im Unterschied zu Filmfestival und ARCHITEKTUR-BIENNALE Hotelbetten füllen und darüber hinwegtäuschen muss, dass die Stelzenstadt außerhalb der Biennale-Monate nicht das geringste Interesse an Gegenwartskunst zeigt. Das Rühren von Werbetrommeln ist nicht der Stil einer dünnhäutigen Intellektuellen, die zurecht misstrauisch ist gegenüber einer überwiegend männlich dominierten Kulturindustrie.

Nach dem Kuratorinnenduo María de Corral und Rosa Martínez 2005 und Bice Curiger 2011 wird die BIENNALE in ihrer weit über 100-jährigen Geschichte erst zum dritten Mal von einer Frau geleitet, und Christine Macel sieht sich bereits im Vorfeld mit Angriffen konfrontiert, »die man einem Mann gegenüber niemals vorgebracht hätte«. Dass sie zum Beispiel ihren Lebensgefährten, den international bisher wenig bekannten italienischen Künstler Michele Ciacciofera, mit in ihre Ausstellung aufgenommen habe. »Ich habe immer wieder mit ihm gearbeitet, schon mehrere seiner Ausstellungen kuratiert. Manch berühmter Kurator hat seine Lebensgefährtin systematisch in seine Ausstellungen miteinbezogen, aber es war eben ein Mann. Ich würde jedenfalls niemals in einer Ankaufskommission für ihn stimmen – das wäre materielle Begünstigung.«

Staatsdienerin Macel hat strenge Prinzipien, und otium und negotium, wie sie altphilologisch sagt, gehören getrennt. Ersterer meint den aus Nachdenken geborenen Moment kreativen Schaffens, für sie perfekt verkörpert von einem Künstler wie dem Österreicher Franz West, letzterer den Handel mit dem entstandenen Produkt, den sie hinnimmt, aber nicht feiert. Kommerzielle Stars des Kunstbetriebs kommen in Venedig nicht vor. Auch griffige, der Aktualität verpflichtete Themen lehnt sie ab. Im Unterschied etwa zu ihrem Vorgänger, dem US-Nigerianer Okwui Enwezor, der 2015 in Venedig versucht hatte, Gegenwartskunst als Reaktion auf aktuelle politische, soziale und wirtschaftliche Krisen zu zeigen. »Ich stelle lieber Fragen, als Antworten zu suchen«, beteuert Christine Macel. Wie 2016 bei ihrer den Besucher ratlos lassenden Präsentation von Ankäufen des CENTRE POMPIDOU, just im von Enwezor geleiteten Münchner HAUS DER KUNST, wird es bei ihrer Biennale keinen roten Faden geben, nur die – nicht immer sichtbare – Verwandschaft der Werke.

Macel liebt und lebt die Kunst, zweifelt aber immer noch an ihrem Vermögen, dies verständlich zu machen: »Wie kann ich in einer einzigen Ausstellung deutlich machen, wie die Position des Künstlers sich innerhalb der Gesellschaft geändert hat? Etwa weil er sich immer noch den gängigen Kategorien und Vorstellungen von Arbeit entzieht. Einerseits ist der Künstler durch und durch Individuum, er verweigert sich dem üblichen Gemeinschaftsbegriff. Aber andererseits ist sein kritischer, infrage stellender Blick auf unsere Gesellschaft heute weniger deutlich als bis vor 30, 40 Jahren.«

Anstelle hastig abgespulter Atelierbesuche rund um den Globus und kuratorischer Schnellschüsse setzt sie auf die langjährige Nähe zu den meisten ihrer 120 eingeladenen Künstler, von denen immerhin 103 zum ersten Mal bei der BIENNALE dabei sind. Mit einigen – etwa Kader Attia, Mariechen Danz, Gabriel Orozco oder Philippe Parreno – hat sie auch schon im CENTRE POMPIDOU gearbeitet. Andere, aus fernen Landen wie den Arabischen Emiraten oder Afrika, kennt sie seit Langem. Doch besteht sie auf Präsenz des Individuums Künstler auch nach der Eröffnung und deren knapp 20 Performances, von Nevin Aladağ bis zur amerikanischen Tanzpionierin Anna Halprin. Deshalb erfand sie während der sechs Monate dauernden Ausstellung die »Tavola Aperta«, den »Offenen Tisch«. An jedem Freitag und Samstag speist der Teilnehmer gemeinsam mit Besuchern, eine Art informeller Performance, er spielt den Künstler zum Anfassen. All das soll Kunst zum Erlebnis machen; Kunst muss lebendig sein, so Macel, sie muss die Besucher zum Austausch reizen. Die 57. BIENNALE trägt denn auch den etwas marktschreierischen Titel »Viva Arte Viva«, übersetzt etwa »Hoch lebe die lebendige Kunst«. Und das, obwohl neben einigen in den achtziger Jahren geborenen Teilnehmern wie der in Berlin lebenden Agnieszka Polska oder der New Yorkerin Rachel Rose auch manche Arbeit von toten Künstlern gezeigt wird. Vom jung verschollenen Bas Jan Ader, vom ewig jungen Raymond Hains, der neben Franz West zu sehen sein wird, einem Bruder im Geiste. Auch der Ungar Tibor Hajas oder der Brite John Latham sind schon länger tot und wenig bekannt, aber keinesfalls von der Kunstkritik übersehene »Outsider«.

»Es geht um die Kraft der Kunst, um Vertrauen, Hingabe und Schönheit«

Alt und Jung stehen im Dialog. So hängen die gekrümmten Leidensgestalten des im letzten Jahr gestorbenen Syrers und Exilberliners Marwan im »Pavillon der Freuden und Ängste« den knallig farbigen Figuren der jungen Firenze Lai aus Hongkong gegenüber. Weil das Heute nur im Schlagschatten des Gestern verstanden werden kann? Macel winkt ab. »Biografien sind nicht wichtig, es kommt nur auf die Werke an.« Deshalb dürften einige Namen von Teilnehmern selbst Experten unbekannt sein, auch über die rund 50 extra für die Biennale in Auftrag gegebenen neuen Arbeiten, darunter Außenskulpturen von Michel Blazy, Alicja Kwade oder Hassan Khan, mag Macel noch nicht sprechen.

Dafür immer wieder über ihren Ausstellungsparcours, der durch neun architektonische Einheiten führt. Sieben sind im Arsenale, allesamt tragen sie gewollt poetische Titel. Als Echo auf die in diesem Jahr immerhin 85 Ländervertretungen nennt sie diese Lokalitäten ebenfalls »Pavillons«. Doch kennen diese weder nationale noch mediale Beschränkung. 51 Länder und sämtliche heute in der Kunstpraxis üblichen Techniken wie Malerei, Zeichnung, Skulptur, Installation und Medienkunst werden durcheinandergewirbelt. Etwa im Auftakt, dem »Pavillon der Künstler und Bücher« mit Franz West und Raymond Hains, im zentralen Gebäude der Ausstellung in den Giardini untergebracht. Im »Pavillon der Farben«, in welchem Karla Blacks Collagen aus gezuckertem Papier neben den abstrakten Gemälden des 80-jährigen Giorgio Griffa hängen. Oder im »Pavillon der Zeit und Unendlichkeit«, mit dem am äußersten Ende des Arsenale ihr Parcours mit den Installationskünstlern Edith Dekyndt und Vadim Fishkin schwermütig zu Ende geht.