Neues Leben im Plan

Ernst May 1926, Fotografie von Otto Schwerin (Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg

Die Ideen der Bauhaus-Architektur wirkten über die Schule hinaus: In Frankfurt am Main schuf Stadtbaurat Ernst May die exemplarisch moderne Siedlung – das Leben, durchgeplant vom Grundriss bis zur Topfpflanze

TEXT: SANDRA DANICKE

Der Eingang ist denkbar unscheinbar. Wer ins ERNST-MAY-HAUS in der Frankfurter Römerstadt will, nimmt die drei Stufen hinter der grauen Betonbrüstung, geht durch die schlichte Holztür und steht im Flur. Ein Flur wie es ihn hundertfach gibt. Nebenan. Zwei Häuser weiter. Oder auch 32. Ein Flur, der nicht besonders einladend wirkt, aber praktisch. Links führt eine schmale Treppe nach oben, rechts geht es ins Wohnzimmer, geradeaus in die Küche. Das ist nichts Besonderes, nirgends, und hier, in der Römerstadt, der ersten vollelektrisierten Siedlung Deutschlands, schon gleich gar nicht. Alle Reihenhäuser der Trabantensiedlung, die seit 1972 unter Denkmalschutz steht, sind nahezu gleich. Und sie waren noch viel gleicher, damals, zur Bauzeit in den zwanziger Jahren, als man sich anschickte, aus der Stadt am Main ein »Neues Frankfurt« zu machen.

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg war die Wohnungsnot in der hessischen Großstadt dramatisch – immer mehr Menschen waren während der Gründerzeit vom Land in die Stadt gezogen, nach dem Krieg kam eine hohe Zahl von Flüchtlingen hinzu, allein 4500 Menschen aus dem Elsass mussten hier aufgenommen werden. Und so kam es, dass 1925 in Frankfurt mehr als 14000 Menschen als wohnungssuchend gemeldet waren, vorwiegend Arbeiter.

14000 Menschen ohne Wohnung – Frankfurt musste handeln

Der Oberbürgermeister Ludwig Landmann wusste, dass jetzt der ganz große Wurf her musste, einer, der nicht zu teuer war und schnell realisiert werden konnte. 1925 ernannte er den Architekten Ernst May, der zuvor in Breslau gearbeitet hatte, zum Stadtbaurat. Und nicht nur das: Er unterstellte ihm das Hochbauamt, das Siedlungsamt, die Baupolizei, die Abteilung für Stadtplanung, die Grundbesitzverwaltung, die Vergabe von Wohnungsbauhypotheken und die Abteilung Großbauten – und gab ihm damit einen Machtapparat in die Hand, mit dem May seine Visionen umstandslos umsetzen konnte. May war nicht zimperlich: Er entließ diverse Abteilungsleiter und umgab sich mit jungen Kollegen, Technikern, Künstlern und Designern, darunter der Architekt Ferdinand Kramer, als Leiter der Abteilung Typisierung für Leichtbaumöbel zuständig, der Grafiker Hans Leistikow und der Leiter der KÖLNER KUNSTGEWERBESCHULE, Martin Elsaesser, der unter May zum Direktor des Hochbauamtes und zum künstlerischen Berater avancierte.

Gemeinsam entwickelten sie ein groß angelegtes Bauprogramm mit einem umfassenden Gestaltungsanspruch. May und sein Team wollten nicht einfach nur Wohnraum schaffen, sie wollten zugleich einen besseren Menschen formen, einen, der das einfache, schnörkellose Leben im Kollektiv zu schätzen wusste. Dem Prunk und Dekor der Kaiserzeit setzten sie einen sachlichen Stil entgegen. So entstanden Tausende Flachdachgebäude, in denen – wie am BAUHAUS – die Form der Funktion folgte.

Jedes Raumgefüge, schreibt der Historiker Alexander Ruhe, »sollte aufgebrochen und nach den gegebenen Bedürfnissen neu zusammengesetzt werden. Dies wurde durch den bisher nur im Industriebau verwandten Spannbeton möglich. Die Grundidee war, das Wohnen in seine einzelnen Funktionen (schlafen, kochen, essen, waschen usw.) zu zerlegen, wodurch multifunktionale Räume wie etwa die Wohnküche wegfielen und dafür eine Reihe monofunktionaler Kleinräume entstanden, was die Bewohner dann zwingen sollte, ›sich bis in das kleinste einer gewissen Kulturstufe anzupassen‹.«

May wusste, dass das ehrgeizige Ziel, die Bewohner zu besseren Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen, nicht allein mit der Anlage der Siedlung und dem Zuschnitt der Zimmer erreicht werden konnte: »Ein Grundriss mag noch so organisch aufgebaut sein, die Abmessungen mögen noch so zweckmäßig berechnet werden, die ästhetischen Verhältnisse der Räume mögen noch so glücklich sein, im Augenblick, wo der übliche minderwertige Hausrat seinen Einzug hält, schwindet die Harmonie «, konstatierte der Architekt, und man kann ihn verstehen. Auch wenn man bei solchen Äußerungen das unangenehme Gefühl hat, dass May seinen Bewohnern am liebsten noch den Haarschnitt und die Rocklänge vorgegeben hätte.

Die Bewohner sollten zu neuen Menschen gemacht werden

Da man sich auf die Stilsicherheit der künftigen Bewohner nicht verlassen konnte, nahm das Team um May die Gestaltung der Einrichtung selbst in die Hand: Ferdinand Kramer entwarf etwa Türklinken oder einen Ofen, Franz Schuster designte schlichte kubische Möbel aus Sperrholz, für deren Herstellung die Stadtverwaltung in einer leer stehenden Kaserne die »Erwerbslosenzentrale « einrichtet, wo die Möbel von vormals arbeitslosen Schreinern angefertigt wurden. Auch die KUNSTSCHULE FRANKFURT beteiligte sich mit Entwürfen, etwa für Tisch- und Stehlampen. Bei der Produktion achtete man auf Qualität: Die Uhren kamen von Junghans, die Stühle von Thonet und der Hausrat von WMF. Stärker als am BAUHAUS interessierte man sich in Frankfurt für die industrielle Fertigung typisierter Produkte. May richtete in seinem Dezernat eigens eine Abteilung ein, die genormte Bauteile und Grundrisse entwickelte. Das war nicht nur wesentlich billiger als herkömmliches Bauen, es sollte auch dem Kollektivgedanken dienen, der »geistigen Förderung eines Gemeinschaftswesens«.

Entscheidende Elemente der neuen Siedlungen waren außerdem Licht, Luft, Sonne, Grün und Hygiene. Was heute so selbstverständlich klingt, musste damals massiv eingefordert werden, denn, so Alexander Ruhe, »in Deutschland galten etwa ein Drittel aller Wohnungen als verwanzt, und Tuberkulose und Rachitis waren immer noch, nach der schlechten Ernährungslage der Kriegs- und Nachkriegsjahre sogar wieder verstärkt, Volkskrankheiten«.

So entstanden fortschrittliche Siedlungen, die zu den bedeutendsten Bauensembles der Weimarer Zeit gehören, mit insgesamt 12000 Wohnungen, die Standards setzten, aber auch Widerspruch weckten. Nicht jeder wollte sich dem Einheitsgedanken unterordnen, schon gar nicht May selbst, der sich eine Villa in exklusiver Lage am Ginnheimer Hang bauen ließ – genauso wie Martin Elsaesser, Hans Leistikow, der Maler Willi Baumeister und andere wohlhabende Intellektuelle, die in der Nachbarschaft residierten.

Was muss das für ein Gefühl sein zu wissen, dass Frau Gruber aus Nummer 14, Herr Schmidt aus Nummer 212 und auch alle anderen Tag für Tag auf die gleichen blau lackierten Fensterrahmen schauen, auf dem gleichen braunen Linoleum zum Esstisch gehen? Dass sie alle von Montag bis Sonntag die gleichen Türgriffe in ihren Händen halten, die gleichen Lichtschalter drehen, in der gleichen Wanne sitzen, wenn ihnen danach ist? Vielleicht ein sehr schönes, weil jeder sich sagen kann, dass er die gleichen Möglichkeiten zum Glücklichsein hat. Weil keiner neidisch sein muss auf des Nachbars Garten. Man hat ja selbst einen, der genauso groß ist. Sogar die Zahl der Beete, Sträucher und die Bepflanzung wurden festgelegt. So wollte man sicherstellen, dass die Bewohner sich erholten. Außerdem sollten sie Obst und Gemüse zum Eigenbedarf anbauen. Aber natürlich musste auch hier die Optik stimmen. Bevorzugt wurden schnell wachsende und gradlinige Pflanzen: Pappeln und Nussbäume statt Birken und Trauerweiden.

Womöglich fühlte man sich hier, wo durch rhythmisch unterbrochene Wege die Eintönigkeit gemildert und Nachbarschaften überschaubar sind, also besonders gut aufgehoben. Aber vielleicht kam man sich auch vor, wie eine Ameise unter Ameisen, spürte gähnende Langeweile, weil für Kreativität und das Ausleben eigener Vorlieben nicht viel Platz war. Wer heute im Ernst-May-Haus steht, in dem eine der Wohnungen weitgehend in den Originalzustand zurückversetzt wurde, wer also hier durch das gemütliche Wohnzimmer läuft oder im Schlafzimmer vor dem hochklappbaren »Frankfurter Bett« steht, wird all das einfach, aber geschmackvoll finden. Der Grundriss und das Design der Details sind von einer Schlichtheit, die wohl niemals völlig aus der Mode kommt.

Gerne säße man mal in dieser Küche auf dem Drehstuhl an der niedrigen Arbeitsplatte und blickte durch das Fenster Richtung Garten. Man würde vielleicht Kartoffeln schälen, sich dann nach rechts neigen, um den Topf in der Spüle mit Wasser zu füllen, und sich anschließend nach links zum Herd drehen. Alles im Sitzen. Reis, Nudeln, Grünkern und Graupen kämen aus formschönen Aluminiumschütten. Das Salz nähme man sich aus der Kiefernholzlade, das Mehl käme aus einer Lade aus Eichenholz, wo es nicht klumpt. Das Geschirr befände sich in Hängevitrinen mit gläsernen Schiebetüren – ein Traum. Zumindest in der Theorie.

Von der ursprünglichen Ausstattung findet man heute nur noch wenig

Um die »Frankfurter Küche« möglichst zweckmäßig und ergonomisch zu gestalten, hatte die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, die May extra aus Wien nach Frankfurt geholt hatte, amerikanische Forschungen über Bewegungsabläufe studiert. Sie wollte wissen, welche Wege beim Kochen normalerweise zurückgelegt wurden. Dann erfand sie die Einbauküche. Einen kompakten, etwa 6,5 Quadratmeter kleinen Arbeitsraum mit hölzernen, blaugrünen Wandschränken, in dem alle wichtigen Dinge mit einem Handgriff erreichbar sein sollten. Als Vorbild dienten Mitropa-Speisewagen. Wer das Kochen als notwendiges Übel begreift, für den ist eine solche Küche ein Segen. Doch Platz ist hier nur für eine Person: In den zwanziger Jahren war das fraglos die Hausfrau. Kinder oder Ehemänner hatten in diesem Raum nichts verloren. Heute existiert die Einbauküche von Schütte-Lihotzky in der Siedlung fast nirgends mehr. Dafür findet man sie in Frankfurt sowohl im HISTORISCHEN MUSEUM als auch im MUSEUM ANGEWANDTE KUNST.

Auch von den anderen Möbeln, die eigens für diese Räume konzipiert wurden, findet man in den Siedlungen wohl nur noch sehr wenige. Wer durch Im Burgfeld spaziert, die Straße, in der das Ernst-May-Haus eine von 1220 Wohnungen ist, kann nur ahnen, dass in den Wohnungen vom Gelsenkirchener Barock bis hin zum XXXL-Möbelmarkt-Mobiliar alles anzutreffen ist, dass sie hier Teppichboden und Laminat verlegt haben, je nach Geschmack. Was man sieht, sind die abweisenden Betonmauern auf der südlichen Straßenseite, gegen deren Trostlosigkeit diverse Bewohner mit Rankgewächsen, Mobiles und Blumenampeln angegangen sind. Auf der Nordseite, wo den Häusern schmale Wiesenstücke vorgelagert sind, treibt das Bedürfnis nach kreativer Gestaltung seltsame Blüten. Einer hat mit meterhohen Sonnenblumen und Goldruten versucht, die komplette Fassade verschwinden zu lassen, doch erstaunlich viele haben ihr Vordach mit Glyzinien überwuchern lassen. Als sei man beim Versuch, sich von den Nachbarn abzuheben auf groteske Weise gescheitert.

Fast zeitgleich mit der Römerstadt, ebenfalls entlang der Nidda, entstand zwischen 1926 und 1930 die Siedlung Praunheim mit 1500 Wohneinheiten in drei Bauabschnitten – wobei der jeweils jüngere Teil eine höhere Schematisierung aufweist, als der vorherige. Waren die Römerstadthäuser vom Mittelstand bezogen worden, wurden die Praunheimer Einfamilien-Reihenhäuser als Reichsheimstätten verkauft: an Kriegsteilnehmer, deren Hinterbliebene oder kinderreiche Familien. Die Straßen des ersten und zweiten Bauabschnitts passte man noch an die topografischen Gegebenheiten an und baute sie parallel zur Nidda. Im dritten Bauabschnitt spielte die Natur dann keine Rolle mehr.

Siedlung Praunheim: Heute kaum mehr wiederzuerkennen.

Die Tatsache, dass die Wohnungen als Eigentum erworben wurden, führte dazu, dass man sie heute kaum noch wiedererkennt. Wo einst ein von Leistikow ausgeklügeltes Farbkonzept herrschte – die zum Niddatal hin gerichteten Seiten waren weiß, die innere Seite der Wohnstraßen waren blau und rot – leuchten heute die Fassaden in Pink, Grün und Ocker. Die Windfänge vor den Haustüren wurden aus Glasbausteinen, Metall oder Kunststoff gefertigt. Fenster wurden ersetzt, vergrößert, verschoben; es fühlt sich an, als gehe man durch eine Musterhaussiedlung, in der die Baumarkt- und Fertighaustüren der vergangenen 50 Jahre zur Ansicht stehen. Architektur-Puristen mag das kalte Grausen packen. Doch die Art und Weise wie die Bewohner ihre Individualität im Kollektiv ausleben, wirkt auch ziemlich sympathisch.

Um 1930 ging es mit dem Neuen Bauen in Frankfurt schließlich langsam zu Ende. Auch weil das Geld durch die Weltwirtschaftskrise knapp war. Zwischen 1929 und 1932 wurde fast nur noch für das Existenzminimum gebaut: Wohnungen, die winzig waren und noch schlichter und schematischer als ihre Vorläufer. Mit dem Wohlbefinden für alle war es nun nicht mehr weit her. Im Oktober 1930 wanderten May und einige seiner Mitarbeiter nach Russland aus. Bei der Planung sowjetischer Industriestädte konnte man einen wie ihn gut gebrauchen. //