Nehmen wir Anselm Kiefer einfach zu ernst?
Nehmen wir Anselm Kiefer einfach zu ernst?
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Tim Sommer, Chefredakteur chefredaktion@art-magazin.de -

Flugzeug auf Leinwand: Kiefers Atelier ist das Spielzimmer eines Riesen -

Ein malender Derwisch: Anton Corbijn porträtierte Anselm Kiefer 2008 in Barjac -
Liebe Leserin, lieber Leser,
in seiner Wahlheimat Frankreich hat Anselm Kiefer als erster Künstler seit Georges Braque ein Bild für den Louvre malen dürfen. In Großbritannien wurde seine Retrospektive 2014 in der Royal Academy euphorisch gefeiert. In Deutschland hat er zuletzt nur Anstoß erregt: mit dem Plan, den Kühlturm des Atomkraftwerks Mülheim-Kärlich zu bespielen (was die grüne Wirtschaftsministerin von Rheinland-Pfalz zu unterbinden wusste), und mit einer Ausstellung, ausschließlich bestückt aus der Privatsammlung Grothe, in der Bonner Bundeskunsthalle (was den Direktor den Posten gekostet hat). Eine anständige Retrospektive hierzulande? Seit 1991: Fehlanzeige. Das Centre Pompidou in Paris kommt zum Zuge - nicht Hamburg, Berlin, Köln oder München.
Man mag ihn nicht mehr, fast scheint es, als wäre den Deutschen ihr Großkünstler mit den bedeutungsschweren Sinnbildern zu Holocaust und Geisteshelden, seinen Bleibibliotheken und Betonpalästen etwas peinlich geworden. Dazu eine Indizienkette: Ich vermute, man nimmt ihn hierzulande einfach zu wörtlich. Das Spielerische, Groteske, Verrückte, Leichte seiner Kunst wird offenbar erst aus gehörigem Abstand erkannt. Sieht man Kiefer zu deutsch - nämlich spaßgebremst und kopffixiert nach Dienstvorschrift der beflissenen Saaltexte -, dann kann seine monumentale Gänsehautkunst tatsächlich unerträglich werden.
Man sollte Kiefers Werk nehmen, wie es ist, nämlich auf romantisch- ironische Art tief und flach, bedeutungsvoll und witzig zugleich. Dann hat seine Kunst etwas sehr Befreiendes - weil sie scheinbar verlorene Dimensionen wie Pathos, Süßlichkeit und Monumentalität plötzlich wieder zugänglich macht. Machen Sie die Probe und schauen Sie sich sein atelierfrisches Bild nach Madame de Staëls »De l’Allemagne« an, das wir exklusiv auf Seite 36 drucken. Und lesen Sie unser großes Interview: Kiefer ist ein Grenzgänger, der uns viel zu sagen hat.
PS:Joseph Grigely ist ein Künstler, der taub ist - und er ist Künstler, weil er taub ist. Dahinter steckt eine faszinierende, berührende Geschichte. Ab Seite 70