Russland und der hohe Preis der Freiheit

Russland und der hohe Preis der Freiheit

Tim Sommer, Chefredakteur

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Liebe Leserin, lieber Leser,

ganze 41 Sekunden dauerte das Punkgebet von „Pussy Riot“. Doch seit vier Frauen in Wollmaske und Konstruktivistinnenkostüm ihren Zorn in die Gewölbe der Christ-Erlöser-Kathedrale von Moskau kreischten, kann keiner mehr sagen, er hätte nichts gewusst von der unseligen Allianz von Kirche und Staat im Putin-Russland, die hier gemeinsam eine scheindemokratische, patriarchalische Friedhofsruhe durchsetzen wollen. Selten wurde eine politische Kunstaktion so knallhart und effektiv durchgezogen, hat die Aufmerksamkeit der Welt und des Landes gebündelt – und ganz nebenbei noch die Wut und den Witz der erschlafften Punk-Bewegung revitalisiert und das aufständische, utopische Potenzial der russischen Kunst dazu.

Und selten wurde eine Kunstaktion so bitter bezahlt. Nach einem unwürdigen Prozess sitzen zwei der Künstlerinnen, Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina, für zwei Jahre in Lagerhaft. Unsere Titelgeschichte erzählt davon, wie sich die russische Szene in der bleiernen Putin-Zeit neu formiert, mutig, wild und schlau alle Chancen nutzend.

Als Wittenberg „Pussy Riot“ für den Preis „Das unerschrockene Wort“ der Luther-Städte in Deutschland nominierte, schrieb der Theologe und erste Luther-Preisträger Richard Schröder – offenbar pikiert über die drohende Gleichsetzung seiner Person mit den femi- nistischen Punkerinnen –, die Aktion sei eine „pubertäre Geschmacklosigkeit“ gewesen. Die Strafe sei überzogen, aus „jugendlichen Chaoten“ würden schließlich „später oft ganz tüchtige Menschen, sensibler als Normalos“. Man fasst es nicht, was aus einem DDR-Bürgerrechtler alles werden kann! Ein pastoraler Spießbürger, konservativer Kunstbanause und angemaßter Erziehungsberechtigter erwachsener Frauen. Hat nicht auch Luther religiöse Gefühle verletzt, als er gegen den Ablasshandel wetterte? Die Wahrheit hat ihren Preis – in Russland aber ist er viel zu hoch.

  • „Pussy Riot“-Performance im letzten Januar auf dem Roten Platz in Moskau (o.), Solidaritätsaktionen in London, Barcelona, Warschau und New York (u. im Uhrzeigersinn)