Wie MacGregor die Dinge zum Sprechen bringt

Wie MacGregor die Dinge zum Sprechen bringt

Tim Sommer, Chefredakteur chefredaktion@art-magazin.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

das ganze Jahr über türmen sich immer neue Kataloge und Folianten in der Redaktion, aber spätestens, wenn wir wie für dieses Heft ein Buch-Spezial vorbereiten (ab Seite 125), beginnt die Schlacht um die Rezensionen. Dieses Mal habe ich mir ein Buch sofort gesichert und für dieses Editorial reserviert: „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ von Neil MacGregor, eben erschienen bei C. H. Beck. Dieses Buch ist so schön, so klug und so richtungweisend, dass es eigentlich in jede Bibliothek gehört – vor allem aber auf den Schreibtisch von Museumsdirektoren. Neil MacGregor ist Chef des British Museum in London – und nicht nur, dass dort in schöner Tradition der Eintritt frei ist, man kümmert sich auch beispielhaft um die Erschließung und Vermittlung der Objekte aus aller Welt, von denen viele bekanntlich auf recht zweifelhafte Weise in die Schatzkammer des Empire gewandert sind. Das Kunststück von MacGregor ist, dass er aus stummen Objekten beredte Subjekte macht: 100 Dinge vom Faustkeil bis zur Solarlampe – also gar nicht unbedingt die bewunderten Highlights der unüberschaubaren Sammlung – geben in 100 faszinierenden Kapiteln Auskunft über das, was die Menschheit zusammenhält. Sie erzählen von historischen Verflechtungen und verblüffenden Parallelentwicklungen, von Umdeutungen und Aneignungen, von Irrtümern und verlorenem Wissen. Geschichte wird von Siegern geschrieben, weiß MacGregor, „vor allem dann, wenn nur die Sieger schreiben können“. Deshalb vertraut er auf die „notwendige Poesie der Dinge“, wenn er den weggeworfenen Borkenschild eines Aborigines deutet oder eine Trommel, die auf einem Sklavenschiff nach Amerika gekommen ist. So entsteht über 800 Seiten ein konsequent postkoloniales Panorama der Kulturund Weltgeschichte, das zeigt, welche Sinnressourcen in einem Museum stecken, das sich nicht mit Datierung und Beschreibung seiner Schätze begnügt, sondern gesellschaftlich wirksam sein will: als Denkfabrik, nicht als Vitrine.

  • Was die Menschheit zusammenhält: ein spätrömischer Pfefferstreuer, eine westafrikanische Akan-Trommel, ein Gefäß der Moche aus Peru und ein Waffenthron aus Mosambik