Mangelnde Selbstkritik als Déformation professionnelle
Mangelnde Selbstkritik als Déformation professionnelle

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, das Interview mit Tracey Emin, das unser London-Korrespondent Hans Pietsch für unsere Titelgeschichte geführt hat, ist in mancher Hinsicht bemerkenswert. Ich finde beeindruckend, wie sich die Skandalkünstlerin der Young British Artists gewandelt hat – und wie ähnlich sie sich doch geblieben ist. Ein seltener Glücksfall an Offenheit, dachte ich mehrmals beim Lesen. Die erstaunlichste Aussage in diesem erstaunlichen Interview aber ist für mich die Antwort auf die Frage nach dem Gang ihrer wechselvollen Karriere: »Die Mitte war bei mir nicht besonders brillant«, sagt die Emin, »sie war hart, traurig und einsam, das weiß ich heute.«
Ich habe gestutzt, nachgedacht und auch meine Kolleginnen befragt: Uns ist kein zweites Beispiel dafür eingefallen, dass eine Künstlerin oder ein Künstler je irgendeine Schwäche oder gar abfallende Leistung eingeräumt hätte. Demut, ja, die gibt es zuweilen, wenn etwa Gerhard Richter im ART-Gespräch zugab, sich vor den Alten Meistern ganz klein zu fühlen: »Ich bin dagegen ein armes Kerlchen mit meinem sogenannten Talent. Ein Foto abzumalen, das ist wirklich billig gegen das, was ein Tizian gemacht hat.«
Aber Selbstkritik, die scheint zum Künstlertum sonst nicht zu passen. Eigentlich ist dieser Narzissmus ein unsympathischer, auf jeden Fall ein unzeitgemäßer Zug. Ich denke, es gibt zwei Gründe für diese Déformation professionnelle: In keinem Beruf sind Persönlichkeit und Schaffen so eng verknüpft, eines bedingt das andere. Vermutlich klappt das höchst fragile Zusammenspiel nur, wenn man sich selbst als eine Art unfehlbares Wunderwerk betrachtet. Kein Künstler würde sich heute noch als ein Genie bezeichnen – aber offenkundig funktioniert der Beruf nur, wenn man sich zumindest heimlich doch als solches sieht. Und dann ist da noch ein sehr handfester, kommerzieller Grund: Der Kunstmarkt basiert auf dem Vertrauen, dass sich ein Werk kontinuierlich weiterentwickelt, sich vervollkommnet – während es de facto wie jedes menschliche Tun kreative Phasen, solche der wohlgeübten Wiederholung und meist auch Fehlschläge und Verirrungen enthält, die Künstler um den Preis des Niedergangs kaschieren müssen. Denn welcher Sammler hört schon gern, dass er ein Werk aus einer »nicht besonders brillanten« Phase besitzt?
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Tracey Emins Interview ab Seite 20 – und mir wünsche ich mehr Künstler, die etwas Mut zur Selbstrelativierung aufbringen.
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Eine Kunstkarriere ist kein Siegeszug, sondern schließt Irrwege und Scheitern mit ein. Tracey Emin weiß das – und sie sagt es auch -
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