Kunst in Weimarer Verhältnissen
Kunst in Weimarer Verhältnissen
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TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de -

Ob Curt Querners ≫Agitator≪ 1931 Kommunist war oder Nazi? Heute wirkt er wie ein Pegida-Hetzer -

Zuzanna Ziołkowska Hercberg vor einer Sirene in Warschau. Das Modell fur die Statue kam beim Warschauer Aufstand ums Leben
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
spatestens seit dem Wahltag liegt der Vergleich mit den zwanziger Jahren ja gros im Trend der aktuellen Zeitanalyse. Und tatsachlich sind (bei allen Unterschieden) die Parallelen zur Zeit der Weimarer Republik offensichtlich: Sie reichen von Lifestyle- Phanomenen wie Ernahrungswahn und Fitnesskult bis zur politischen Groswetterlage mit Populismus, Nationalismus und Radikalisierung. Aber wie soll die Kunst reagieren, wenn der gesellschaftliche Konsens zu zerbrechen droht? Die Diskussion um die documenta 14 hat das Dilemma aufgezeigt: Einerseits fordern wir, dass die Kunst Stellung bezieht. Andererseits wunschen wir uns Werke, die unser Denken anregen, nicht fernsteuern.
Ab Seite 92 lesen Sie das Interview mit Kuratorin Ingrid Pfeiffer, die fur die Frankfurter Schirn ein faszinierendes Panorama zur Kunst der Weimarer Republik zusammengestellt hat. Sie arbeitet dabei gezielt die ≫veristische≪ Seite der Neuen Sachlichkeit heraus – und zeigt grose Kunstwerke mit Schlagrichtung. Viele von ihnen waren in der Zwischenzeit aus dem Kanon gefallen: Weil sie so journalistisch erschienen, taugten sie eigentlich nur noch als historische Illustrationen. Wer diese Bilder jetzt wieder sieht, hat beides: den Abstand von fast hundert Jahren und die Nahe brennender Aktualitat. Wirkt Curt Querners Agitator nicht plotzlich wie ein Pegida- Hetzer? Und sind die marschierenden Proletarier von Otto Griebels Internationale nicht gleichzeitig Fluchtlinge aus Afrika?
Vielleicht macht das Zuzanna Ziołkowska Hercberg Hoffnung, die unsere Autorin Susanne Altmann bei ihrer grosen Polen-Reportage (ab Seite 68) getroffen hat. In unserem Nachbarland sind die ≫Weimarer Verhaltnisse≪ noch etwas deutlicher. Die Szene muss sich unter dem Druck des Rechtsrucks samt Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit neu formieren. Wer politisch wirken will, so merken die Kunstler, muss raus aus der Verratselung – und ziemlich deutlich werden. Auch um den Preis, damit gleich aus der Kunst zu fallen. ≫Sobald eine Botschaft lesbar wird, werden wir ja schon misstrauisch und denken, das sei Propaganda≪, beklagt Ziołkowska die Erwartungshaltung an moglichst vieldeutige Kunstwerke.
Der Blick zuruck nach Weimar zeigt: Nur Mut zur klaren Aussage in politisch schwierigen Zeiten! Auch mit einem klaren Standpunkt kann man nach hundert Jahren noch bedeutungsoffen und aktuell sein.