Wenn Denkmale ihren Normalzustand verlieren

Wenn Denkmale ihren Normalzustand verlieren

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR

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  • In Charlottesville wollen die Ultrarechten die beschlossene Schleifung des Denkmals für den Südstaatengeneral Robert E. Lee verhindern
  • Naziklotz mit bundesdeutschen Fußnoten: Hamburger Kriegerdenkmal, Deserteursdenkmal, vorn ein Teil von Hrdlickas Gegendenkmal

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

heute Morgen war ich auf einem historischen Schlachtfeld mitten in Hamburg, um mich über einen Streit zu informieren, der gerade in den USA tobt. In Charlottesville, Virginia, bekämpfen die extremen Rechten die vom Stadtrat beschlossene Entfernung eines Denkmals für den Südstaatengeneral Robert E. Lee. Am 12. August gipfelte die Auseinandersetzung in einem Attentat, bei dem ein Mensch ums Leben kam. Präsident Donald Trump verweigerte die Distanzierung von dem Nazimob, was den Streit erst recht eskalieren ließ.

Eine ähnliche Debatte, wenn auch unblutig, gab es in den achtziger Jahren in Hamburg um das »76er Kriegerdenkmal«, einen Memorialklotz für ein Infanterieregiment, errichtet im Nazijahr 1936. Nach langen Querelen für und wider den Muschelkalkquader mit den marschierenden Knobelbechern entschied man sich, ein »Gegendenkmal« von Alfred Hrdlicka danebenzustellen, das aus Kostengründen unvollendet geblieben ist. Erst vor zwei Jahren kam noch ein Mahnmal für Deserteure dazu. Es ist ein sehr bundesdeutscher Ort geworden. Das Ganze sieht aus wie ein Nazidenkmal mit einem Rattenschwanz von Fußnoten. Und der Praxistest am Spätsommermorgen zeigt: Niemand nimmt Notiz davon.

Nun wird keiner behaupten, dass Nichtbeachtung der Idealzustand für ein Denkmal ist. Aber wenn man ehrlich ist: Es ist der Normalzustand. Jede Zeit hat ihre Helden. Was einst mit großer Anstrengung finanziert und mit lautem Tschingderassabum enthüllt wurde, geht meist recht bald in den botschaftslosen Dämmerzustand der Stadtmöblierung über, der Jahrhunderte dauern kann. Es sei denn, ein Systemumschwung fegt das Relikt der überwundenen Epoche hinweg oder eine aktuelle Debatte findet in seltenen Fällen in einem alten Denkmal ihren Kristallisationspunkt.

Das war in Hamburg die Diskussion im Nach-68er-Deutschland um die unvollendete Aufarbeitung der Nazizeit. Das ist heute in Charlottesville der Fall: Hier tobt sich der Kampf um die Deutung der Geschichte von links und rechts, von Schwarz und Weiß an der patinierten Bronze aus. Ich kann die Hamburger Lösung als Alternative zum Stürzen oder Stehenlassen durchaus empfehlen. Es ist die demokratische Lösung, anstrengend, langwierig – aber am Ende befriedend: ein Denkmal für eine Diskussion, die bis zum Konsens geführt wurde.

PS: Zum 5. Mal präsentieren wir den Publikumspreis zum Preis der Nationalgalerie – dem bedeutendsten Preis für Newcomer in Deutschland. Die Nominierten finden Sie ab Seite 34.