Nischen zwischen Moskau und Çanakkale
Nischen zwischen Moskau und Çanakkale

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Ein Bild wie aus den achtziger Jahren: Küchen-Vernissage in der Moskauer Wohnungsgalerie Swetlana -

Wo Freiheit nicht nur ein Wort ist: Ausstellung von Šejla Kamerič im Istanbuler Kunstraum ARTER
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
auf die Frage danach, warum sich die Künstler in der Erdoğan-Türkei nicht mit den Oppositionsparteien verbünden, gab die Kuratorin Beral Madra im ART-Interview (ab Seite 126) eine verblüffende Antwort: die Relevanz der bildenden Kunst für die Meinungsbildung sei »nur ein Phantasma des Westens«, die Parteien würden sich gar nicht dafür interessieren. Aber gerade aufgrund dieser Marginalisierung sei es »hier immer noch möglich, kritische Kunst in privaten Galerien und nicht staatlichen Institutionen zu zeigen«.
China ist nicht Russland, die Türkei nicht der Iran, Saudi-Arabien nicht Kuba. Zwischen Diktatur und lupenreiner Demokratie gibt es tausend Abstufungen und kulturelle Schattierungen, die auch den Umgang mit der bildenden Kunst betreffen. Das, was Beral Madra das westliche Phantasma von der handfesten politischen Relevanz der Kunst nennt, hat seine Wurzeln in der Zeit der Aufklärung und hatte seine Blüte in der letzten Jahrhundertmitte, als Stalinismus und Hitlerismus meinten, über Kunst das Volk in ihrem Sinne formen zu können. Moderne Diktaturen und Halbdemokratien scheren sich erst einmal gar nicht um die paar verrückten Typen, die einander Bilder zeigen, die anderen völlig unverständlich sind.
Eine zweite Geschichte im Heft bestätigt die These: Silke Stuck berichtet (ab Seite 38) aus Moskau, wo sich abseits der Oligarchengalerien und Staatsmuseen die Geschichte der Sowjetzeit scheinbar wiederholt. Eine eingeschworene Szene trifft sich dort wieder in Wohnungsgalerien bei Gurkensuppe, Wodka und Tee zu einer Kunst, die ohne Geld und Weltruhm auskommt, aber dafür fast völlige Freiheit genießt.
Man könnte das leicht als Underground-Idylle missverstehen. Schon wieder ein »westliches Phantasma«: das vom glücklichen Bohemien. Denn wie prekär das Leben in den Nischen ist, zeigen auch wieder beide Geschichten in diesem Heft. Wer wie Pjotr Pawlenski den russischen Underground verlässt, um performativ beim Geheimdienst Feuer zu legen, dem lässt man doch wieder nur noch die Wahl zwischen Knast und Psychiatrie. Und Beral Madra wurde kurz vor Redaktionschluss als Kuratorin der ÇANAKKALE-BIENNALE entlassen. Wie groß die Nische für die Künstler bemessen wird, bestimmen immer noch die Machthaber.