Warum unser Lieblingsdissident noch viel zu sagen hat
Warum unser Lieblingsdissident noch viel zu sagen hat
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TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de -

Gefangen in der eigenen Geschichte: Ilya Kabakov 1993 auf der Biennale von Venedig, rechts die Arbeit »Speechless« von Shirin Neshat, 1996 -
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Ai Weiwei zwischen Haft und Ausreise, 2013 in seinem Atelier in Peking
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
so paradox es scheint: Wer sich die Freiheit nimmt zu protestieren, verliert die Freiheit, nicht zu protestieren. Als der chinesische Künstler Ai Weiwei nach drei Monaten Haft und vier Jahren Hausarrest und Reiseverbot in diesem Sommer endlich seinen Pass wiederbekam und zu seiner Familie nach Deutschland fuhr, gab er einige irritierende Interviews. Sie zeigen Ai Weiwei milder und konzilianter als erwartet. Plötzlich argumentiert er blumig-widersprüchlich, statt geradeheraus zu protestieren, signalisiert Verständnis für das Regime in Peking, registriert Lockerungen und Gesprächsbereitschaft, obwohl willkürliche Verhaftungen dort immer noch an der Tagesordnung sind. Konnte dieser grüblerische Weise noch unser Lieblingsdissident sein? Erst folgte in den Medien ein Empörungssturm, dann ein Wettbewerb im Chinesenverstehen.
Das Ganze zeigt, wie brutal die Rollenzuschreibungen auch im angeblich so individualisierten Kunstbetrieb sind. Wenigen Künstlern, vielleicht noch am ehesten dem DDR-Flüchtling A. R. Penck, ist es je gelungen, in der freien Welt aus dem Raster der Dissidenz auszubrechen und sich aus rein politischen Deutungsmustern ihrer Kunst zu befreien. (Auch bei ihm freilich um den Preis sinkender Wahrnehmung.) Wer auf der Agenda bleiben will, bedient am besten in Wort und Werk lebenslang weiter den Grundkonflikt, aus dem wir seine Arbeiten verstehen gelernt haben. Das zeigen Beispiele wie die Ex-Sowjetbürger Ilya und Emilia Kabakov oder die Iranerin Shirin Neshat, die, obschon seit Jahrzehnten in Amerika lebend, immer wieder die Spannungen und Widersprüche in ihrer ehemaligen Heimat thematisieren. Das ist aus der Biografie verständlich – aber auch bequem, weil es unser Weltbild komfortabel bestätigt und eben nicht infrage stellt.
Aber ist nicht genau das die Aufgabe der Kunst? Wir sollten gespannt sein, was uns Ai Weiwei über sich und China zu erzählen hat. Nicht auf die nächste Eskalation lauern – sondern neugierig die Differenzierung betrachten, die der Weltenwanderer gerade jetzt vollzieht, wo er in Berlin lebt, aber die Möglichkeit behalten will, nach Peking zurückzukehren. Sicher hilft es dabei, weniger auf die Tonspur, als vielmehr auf das Werk zu achten.
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