Meisterwerke der Zweideutigkeit
Meisterwerke der Zweideutigkeit

Liebe Leserin, lieber Leser,
als strenger Kunstkenner mögen Sie sich über unser Titelbild gewundert haben: Diese berühmte weibliche Hand, die da im Louvre mit dieser berühmten Brustwarze spielt, hat doch nichts mit Erotik zu tun! Die beiden Damen, die kunstvoll frisiert aus der Badewanne schauen (siehe Abb. rechts), führen eine Art Schwangerschaftstest durch, so lehrt es schließlich die Kunstgeschichte über das Bild eines unbekannten Malers aus der Schule von Fontainebleau. Die Blonde rechts mit dem Ring, das ist Gabrielle d’Estrées, Mätresse des französischen Königs Henri IV. und Mutter dreier seiner Kinder, die Brünette links wohl eine ihrer Schwestern. Und Stammhalter waren damals aus dynastischen Gründen das A und O, gerade wenn die angetraute Königin partout nicht schwanger wurde. Die Theorie mit dem Test per Brustmassage mag ja stimmen – aber die volle Wahrheit über das Bild ist sie ganz gewiss nicht.
Denn so wie den Damen im Bad geht es vielen Helden und Heldinnen in unseren Museen. Sie werden als gemarterte Heilige angepriesen, als unschuldige Milchmädchen, als sterbende Krieger oder schlummernde Götter. Dabei hatten die Maler und ihre Auftraggeber im christlichen Abendland nur listig jeden erdenklichen Vorwand genutzt, Lust in allen Spielarten in mehr oder weniger salon- und kapellentaugliche Sujets zu verpacken.
Unsere Autorin Almuth Spiegler hat sich für die neue art -Serie „Lust und Tabu“ durch „die Laken der europäischen Kunstgeschichte gewühlt“ und geht in ihrem Text den vielen subtilen Anspielungen ebenso nach wie den ganz expliziten Darstellungen, die sich – wen wundert’s – über die Jahrhunderte zunehmend häufen. Im ersten Teil verfolgen wir die lange Entwicklung bis ins 19. Jahrhundert, dann entdecken wir die Befreiung des Körpers im freudschen Zeitalter der Moderne, im dritten Teil entfalten wir die Strategien, mit denen Künstler unserer tabulosen Epoche beikommen, in der die Lust scheinbar zur Industrie geworden ist.
Das Schöne an solchen Serien ist, dass auch die Redaktion etwas lernt. Erst einmal auf die Spur gebracht, finden sich Liebe und Lust überall. Sie ziehen sich als völlig ungeplanter Leitfaden auch durch dieses Heft: Als Pornotheater bei Paul Chan, als schwellende Skulpturen bei Frank Stella, als skulpturaler Minnedienst beim Naumburger Meister, als Lob der Ekstase beim Expressionismus. Im Hintergrund unseres Titelbilds hängt übrigens ganz klein ein Gemälde über dem Kamin, das einen fast nackten Männerunterleib zeigt. Ein tadelnder Hinweis auf die Unzucht des Paars oder eine frivole Anspielung auf einem Bild unter Liebenden? Man weiß es nicht. Die schöne, fruchtbare Gabrielle d’Estrées ist noch kurz vor der Hochzeit mit dem guten König Henri gestorben, der seine kinderlose Ehe schon hatte annullieren lassen. Sie wurde vermutlich im Auftrag der Medici ermordet – die dann eine ihrer Töchter ins königliche Bett vermittelten. Maria de’ Medici wurde zur großen Mäzenin der Künste, vor allem für Peter Paul Rubens – und von dem weiß man ja…
Spielarten der Erotik: „Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern“ (spätes 16. Jh.) aus der Schule von Fontainebleau, „Heiliger Sebastian“ von Antonello da Messina (um 1478), „Ekstase der Heiligen Theresa“ von Giovanni Lorenzo Bernini (1645/52)