Bewusstseinsbildung durch Hausbesetzung

Bewusstseinsbildung durch Hausbesetzung

Liebe Leserin, lieber Leser,

in Hamburg gibt es wieder Hausbesetzer – aber diesmal ganz lieb und unpolitisch. Im Gängeviertel, wo sich über Nacht junge Künstler eingenistet haben, ist es so bunt und so friedlich wie an der Hafenstraße gut 20 Jahre nach der Schlacht. Und heute stimmt die Pressearbeit! Unterstützt vom Feuilleton ist man sofort erfolgreich. Die Kultursenatorin schlägt sich gleich auf die Seite der Eindringlinge, die man früher wie Maden vom innerstädtischen Filetstück gewischt hätte. Immerhin arbeiten sie in ihrem Sinne: Gerade wird in Hamburg eine „Kreativagentur“ gegründet, die zwischenzeitliche Leerstände und Künstler in Raumnot zusammenbringen will. Die Einsicht, dass Kultur ein entscheidender Standortfaktor ist, dass Künstler Ateliers brauchen, dass „Hochkultur“ von unten wächst, kommt reichlich spät. Hamburg, Köln, Düsseldorf, München – es ist überall das Gleiche: Die Kunsthochschulen bilden die Talente aus, die dann wie die Lemminge nach Berlin ziehen. Die Kunstmetropolen von gestern haben schlicht vergessen, rechtzeitig gegenzusteuern. In Berlin bieten sich die Freiräume, wie überall im Osten nach der Wende, ganz automatisch durch den Niedergang der Industrie. Das war und ist kein Verdienst der Berliner Kulturpolitik. Die „Gentrifizierung“ vertreibt auch hier die Künstler längst aus Mitte und Umgebung – die Ressourcen an ungenutzten Gewerbehallen sind nur schier unendlich. Letztlich zählt das Ergebnis: Keiner deutschen Stadt hat art schon so viele Spezialhefte gewidmet – und noch nie hatten wir hier irgendwelche Schwierigkeiten, Themen zu finden. Die Hauptstadt pulst, der Krise zum Trotz: Vom neuen Palast für die Nofretete zum Berghain-Club, Berlin ist voller Kunstgeschichten.

Und alle anderen staunen …