Liebe Leserin, lieber Leser

Liebe Leserin, lieber Leser

Tim Sommer, Chefredakteur

fast könnte man sentimental werden, wenn sich heute noch jemand richtig über Kunst aufregt. Noch dazu, wenn die Einsprüche von ganz hoch oben kommen – wie vom Heiligen Stuhl, der verlauten ließ, Martin Kippenbergers gekreuzigter Grasfrosch im neuen Museion von Bozen habe „die religiösen Gefühle vieler Menschen verletzt, die im Kreuz ein Symbol der Liebe Gottes und unseres Heils sehen, das Anerkennung und religiöse Verehrung verlangt“. Oder von etwas weiter unten, wie vom italienischen Kulturminister Sandro Bondi, der im gleichen Zusammenhang zeterte, die Museen sollten nicht „die Kunst der Entweihung, der unnützen Provokation und des Nonsens feiern“ und sich statt dessen auf die Suche nach „Sinn und Schönheit“ begeben.

Das weckt ganz kurz Erinnerungen an die Zeit, als die Kunst noch mächtige und kluge Gegner hatte, als die Avantgarde sich im Kampf gegen die gesicherten Bastionen von Tradition, Moral und Geschmack durchsetzen musste. Aber es war doch nur eine Posse im Sommerloch, die den bedauernswerten Zustand der Kulturnation Italien in aller Drastik auf die europäische Bühne brachte. Die Kunst hat keine politische Lobby hier, und Sachverstand ist Mangelware. Der Vatikan sollte mit seinem heiligen Zorn lieber in die Devotionalienläden seiner Kirchen, Klöster und Wallfahrtsstätten fahren und den verlogenen Kitsch verdammen, der die Gefühle – und den Verstand – von weit mehr Menschen verletzt, als Kippenbergers armer Frosch es je könnte. Und Italiens Kulturminister sollte die Freiheit der Kunst und seiner Museumsdirektoren akzeptieren, wie es außerhalb von Nordkorea heute eigentlich Konsens ist.

Martin Kippenberger (1953 bis 1997) hatte 1990 eine ganze Serie von Fröschen bei einem Herrgottschnitzer in Tirol in Auftrag gegeben, wo er sich jedes Jahr vier Wochen (ausnahmsweise alkoholfrei) erholte. Sie werden seitdem ausgestellt, ohne weiter Anstoß zu erregen. Der Künstler zeigt sich hier selbst – als leidende Witzfi gur. Das Kreuz symbolisiert seinen Glauben an die Kunst. „Eine Provokation des Moralisten gegen Heuchelei und Frömmelei“, wie die Journalistin Susanne Kippenberger schreibt. Ihr Bruder, so hofft sie „sitzt im Himmel und freut sich kaputt“ über den bigotten Tiroler Aufruhr, bei dem sich Benedikt XVI. und Bondi I. so richtig lächerlich gemacht haben.

Zugegeben: Ein wenig ist New York aus dem Fokus geraten, seitdem nicht nur Berlin, Paris und London, sondern auch Peking, Shanghai oder Dubai den Rang von Kunstmetropolen für sich reklamieren. Mit diesem Heft machen wir die Probe: Ist das Comeback von Jeff Koons nur ein künstlicher Hype? Was taugt die Architektur nach 9/11? Warum zieht es die Talente aus aller Welt immer noch nach Manhattan? Unser City Special wird Ihnen zeigen: New York ist und bleibt eine Klasse für sich – einfach unvergleichlich.

Ihr Tim Sommer

  • Italien hat den Reiztest nicht bestanden: „Zuerst die Füße“ von Martin Kippenberger (1990)
  • Gestern und heute in einem Gebäude: der Hearst Tower von Norman Foster im Fotoessay von Andreas Herzau