Liebe Leserin, lieber Leser

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Tim Sommer, Chefredakteur

noch nie hat ein Restitutionsfall einen vergleichbaren Streit entfacht wie die Rückgabe von Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“ an die Erben des jüdischen Sammlerpaares Alfred und Thekla Hess. Der Berliner Senat, so heißt es, habe das Bild voreilig herausgegeben und damit dem Brücke-Museum leichtfertig ein Hauptwerk entzogen. Sachliche Argumente werden gegen moralische Erwägungen ausgespielt: Die Erfurter Schuhfabrik von Hess sei schon vor der Naziherrschaft Konkurs gegangen, seitdem hätte die Familie vom Verkauf ihrer Bilder gelebt. Auch die „Berliner Straßenszene“ sei deshalb 1936 aus dem Schweizer Exil an den Frankfurter Sammler Carl Hagemann gegangen - zu einem fairen Preis von 3000 Reichsmark. Aber: Während nichtjüdische Pleitiers in Nazideutschland aus eigener Kraft wieder reüssieren konnten, waren die glücklich dem Tod entronnenen Exilanten meist aller Chancen beraubt. Sie mussten ihr Vermögen verwerten - und zwar zu einem erzwungenem Zeitpunkt und unter unsichersten Lebensumständen.

Verlorene Ikone; E. L. Kirchners „Berliner Straßenszene“ von 1913

Wenn sich heute deren Urenkel an deutsche Museen wenden, dann tun sie das oft auf Anraten von Anwälten oder Auktionshäusern, die gezielt die Bestandslisten nach Werken durchsuchen, deren Herkunft zumindest moralisch zweifelhaft ist. So wohl auch hier: Kirchner-Experte Wolfgang Henze sagt im art-Gespräch (siehe Seite 145), es gehe „schlicht um Geld“. Für 18 bis 25 Millonen Dollar soll der Kirchner im November bei Christie’s versteigert werden, das lohnt intensive Recherche.

Eines zeigt der aktuelle Berliner Streit so deutlich wie zuletzt der Dresdner (art 1/2006) um Menzels „Ein Nachmittag im Tuileriengarten“ oder der fatale Fall von Noldes „Buchsbaumgarten“ in Duisburg (art 1/2004): Die Museen, die Kommunen und Länder sind offenbar heillos überfordert, moralisch sauber, aber auch sachlich korrekt und nachvollziehbar zu agieren. Der Bund als Rechtsnachfolger des „Dritten Reichs“ muss sich seiner Verantwortung stellen: Mit einem Rückkauffonds für die wichtigsten Bilder - wie ihn auch der Generaldirektor der Dresdner Kunstsammlungen Martin Roth fordert - und einem zentralen, handlungsfähigen Gremium, das die wirklich strittigen Fälle offen und klar diskutiert.

Ja, auch München, Köln oder Hamburg haben ihre Kunstszenen. Die sind sehr verschieden, haben aber eines gemeinsam: den Neid auf Berlin. Deshalb ein ganzes Heft über die arme und reiche, ruppige und charmante, erschreckend provinzielle und dabei wunderbar polyglotte, vor allem aber chronisch unvollendete Hauptstadt. Hier fühlen sich die Künstler wohl, und hoffentlich auch Sie.

Tiefenrecherche in der Berliner Szene: Ute Mahler von der Fotografen-Agentur Ostkreuz und art- Korrespondent Kito Nedo