Vorhang zu und alle Fragen offen

Vorhang zu und alle Fragen offen

  • TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de
  • Weniger Kunst als kunstfernes Get-together am Bootssteg Ahoi
  • Kuratorenliebling Richard Bell aus Australien vor seiner Aborigines-Botschaft auf dem Friedrichsplatz

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

vielleicht hilft ja ein Perspektivwechsel. Da sich die Kolleginnen und Kollegen fast der gesamten deutschen Presselandschaft offenbar entschieden haben, angesichts der Antisemitismusquerelen auf der DOCUMENTA FIFTEEN die Berichterstattung über sämtliche weitere Aspekte und die Protagonisten der Schau schlicht abzubrechen, lassen wir in diesem Heft die anderen Experten des Metiers zu Wort kommen: Kuratorinnen, Ausstellungsmacher, Museumsdirektorinnen. Wir haben dabei dezidiert nicht nach der Sicht auf die Vorwürfe oder den Umgang damit gefragt, sondern nach der Wahrnehmung der Ausstellung, nach den Entdeckungen, die sie birgt, und den Fragen, die sie aufwirft. Herzlichen Dank an alle, die mitgeholfen haben, ein nachdenkliches, differenziertes, vielschichtiges Bild der ruangrupa-DOCUMENTA zu zeichnen.

Mir ist beim Lesen der Beiträge (ab Seite 30) noch einmal schmerzhaft klar geworden, welch interessante und wilde Debatten wir angesichts des radikal kollektiven und genieskeptischen Ansatzes der DOCUMENTA FIFTEEN hätten führen können. Wo liegt die Grenze zwischen Kunst und Propaganda? Und wo liegt die Grenze zwischen Ausstellung und Get-together? Wollen wir nun gut gemeinte Kunst, die unsere Weltsicht streichelt und kitzelt – oder doch gut gemachte Kunst, die uns ästhetisch packt? Bedient der »Globale Süden« nicht immer noch unseren romantischen Exotismus? Kann das Kollektive überhaupt »gute Kunst« hervorbringen – im Sinne der westlichen Tradition der Autonomie, des Individuums, der Differenzierung? Und wie sicher sind wir uns dieser Tradition eigentlich noch im großen postkolonialen Diskurs?

Dabei ginge es freilich ums Eingemachte, nämlich um die große Frage, die Bettina Steinbrügge, Direktorin des Luxemburger MUDAM, stellt: »Wie viel Globalisierung vertragen wir eigentlich?« Ich fürchte, wenn die im Juni so schlicht, offen und freundlich gestartete d15 am 25. September zu Ende geht, bleibt statt »Harvest« und »Lumbung« wenig mehr als Katzenjammer und Wundenlecken bei allen Beteiligten. Dennoch wird die Schau, auch das zeigt unsere Umfrage, ihre Spur ziehen. Wie noch jede DOCUMENTA zuvor.

PS:

In unserem ART-Spezial zu BIENNALE und DOCUMENTA können Sie sich auch bequem von zu Hause eingehend über die beiden Kunst-Großereignisse des Jahres informieren. Es ist erhältlich in Kiosk und Buchhandel.