Das Schicksal der Kalenderkünstler
Das Schicksal der Kalenderkünstler
TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR
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1982, noch zu Lebzeiten des Meisters, erschien die Titelgeschichte in ART -

Chagall 1907 als Malschüler in St. Petersburg – lange vor dem »Sprung zum Ruhm«
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER ,
die letzte große Geschichte über Marc Chagall brachte ART: im Januar 1982. 35 Jahre Pause für einen der großen Meister der Klassischen Moderne in unserem Magazin – wie kann das sein? Marc Chagall ist wohl ein Opfer seines Erfolgs geworden. Wenn Künstlern erst mal die Liebe der Massen mit solcher Macht entgegenschlägt, verwandelt sich ihr Werk ganz unversehens in eine spezielle Art von Kitsch, und die Fachwelt verliert irgendwann aus Langeweile das Interesse. Joan Miró, Emil Nolde, Friedensreich Hundertwasser, Salvador Dalí – ganz unschuldig sind die Publikumslieblinge nicht daran, dass ihnen irgendwann der Stachel abhandengekommen ist: Sie produzierten in einem langen Leben viel vom Gleichen.
Meist ist eine große Ausstellung mit einigem Forschungsaufwand und einem frischen Blickwinkel nötig, um aus all den Kalenderblättern, Kunstpostkarten und Sonderbriefmarken den Avantgardisten wieder herauszuschälen. Was dem STÄDELMUSEUM 2014 mit Emil Nolde gelungen ist, versucht jetzt das KUNSTMUSEUM BASEL mit Marc Chagall, dem »Schtetl-Poeten«, dem Herrn der Schwärme von fliegenden Liebespaaren und der Herden von roten Kühen.
Dabei kann es schon helfen, ihn im Geist einfach wieder Moische Chazkelewitsch Schagalow zu nennen, wie der arme, schüchterne und unbekannte Maler hieß, der sich aus Witebsk nach Paris aufmachte, um von Größen seiner Zeit zu lernen – obwohl er nicht mal Französisch sprach. Und der bei seiner tastenden Suche zwischen Ost und West jedes spätere Lieblingsmotiv aus dem Nichts erfand und ein erstes Mal malte.
Oder, wie es die Ausstellung in Basel macht, ihn als Vorfahr all jener zu sehen, die heute vom Schicksal und ihren Träumen in der Welt herumgestoßen werden. Chagall blieb zeitlebens ein Fremder, hier wie dort, später noch von den Nazis über den Atlantik getrieben, während erst die Juden in seinem Witebsk ermordet und dann die ganze Stadt in einer Kesselschlacht in Trümmer fiel.
Gleich nach seiner Berufung als Direktor des KUNSTMUSEUM BASEL hat mir Josef Helfenstein von seinem Plan erzählt, den wahren, den suchenden, frühen Chagall in seinem neuen Haus zu zeigen. Ich freue mich darauf, diesen Moische Schagalow wie zum ersten Mal zu sehen!
PS:
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