LIEBE LESERIN, LIEBER LESER

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER

Wenn man sich selbst im Museum begegnet

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR

chefredaktion@art-magazin.de

  • 2011 porträtierte Thomas Struth das britische Königspaar mit der Kamera
  • Nan Goldin fotografierte 1991 zwei Freunde im Taxi

Eigentlich ist das Porträt aus der Kunst verschwunden, ein fast abgeschlossenes Sammelgebiet. Jedenfalls das offizielle, repräsentative. Kommt es doch noch vor, wie bei ausgeschiedenen Bundeskanzlern oder wie 2011 bei Thomas Struths Porträt des britischen Königspaars, dann zeigt sich schnell, warum das so ist: Die ererbten Muster künstlerischer Verdichtung zum singulären Meisterwerk funktionieren nicht mehr bei tausendfach fotografierten und abgefilmten Personen. Die Kunst ist meist völlig chancenlos gegen die Medienbilder – oder produziert nur selber welche: in Form von erregten Geschichten über das neue Staatsporträt. Aber wie verhält es sich bei anonymen Modellen, die durch Zufall in die Kunstgeschichte geraten? Menschen, deren Gesicht zum Allgemeingut wird, obwohl Ihre Person oft nichts zur Sache tut? Marina schminkt Luciano (1975 von Franz Gertsch gemalt), Misty and Jimmy Paulette in a Taxi, New York City, 1991 von Nan Goldin aufgenommen, Lutz und Alex sitzen in den Bäumen , 1992 fotografiert von Wolfgang Tillmans …

Wir haben uns für unsere Titelgeschichte auf die Suche nach diesen Modellen gemacht, die jeder zu kennen meint. Wie lebt es sich damit, Teil eines Kunstwerks zu sein, haben wir uns gefragt. Viele wollten mit uns reden, manche haben es nach reiflicher Überlegung abgelehnt – darunter auch Wolfgang Tillmans’ »Lutz und Alex«, die sich entschieden haben »dem Bild sein Geheimnis zu lassen«. Der Augenblick (kaum einer sitzt noch Modell), als sie Kunstgeschichte wurden, war für sie und alle, mit denen wir gesprochen haben, ein ganz lapidarer. Der aber sickert ins kollektive Bildgedächtnis und wird dann im Museum zum historischen Ereignis. Die Menschen auf den Bildern werden zur Projektionsfläche und manchmal sogar zu Ikonen ihrer Zeit. Für die Protagonisten ist das ehrenvoll, aber nicht leicht zu verkraften – denn wir alle wissen: Manchmal ist nichts schwerer, als sich mit sich selbst zu identifizieren. Davon erzählen die sehr persönlichen Bild-Geschichten ab Seite 32.

PS : Schon zum fünften Mal finden Sie in diesem Heft die Fotoschule von ART und STEIDL. Diesmal mit einem Druck von Bettina Rheims (Seite 80) – exklusiv für Abonnenten!