Der Hitlergruß als Mid-Career-Problem

Der Hitlergruß als Mid-Career-Problem

Tim Sommer, Chefredakteur chefredaktion@art-magazin.de

Liebe Leserin, lieber Leser, das Sommertheater der Kunst findet auch in diesem Jahr in Kassel statt, allerdings vorm Amtsgericht. Der Künstler Jonathan Meese muss sich hier wegen des „Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ verantworten. Er hat den Hitlergruß gemacht, nicht, wie schon häufig bei Performances, sondern beim Podiumsgespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Nun geht es darum, ob auch dieses Interview als Kunst zu nehmen sei – dann wäre alles rechtens, denn in der freien Kunst kann schließlich alles sachdienlich sein. Bei Meese geht die übliche Deutung, auf minimale Länge gebracht, so: Durch das Zeigen des Bösen wird das Böse ausgetrieben.

Außerhalb seiner Kunst (und natürlich gehört die inkriminierte Interview-Performance dazu) ist er der liebste Mensch der Welt – und gewiss kein Nazi. Ganz gleich, zu welchem Ergebnis die Amtsrichterin kommt: Der Künstler hat ein wirkliches Mid-Career-Problem. Angefangen hat der sympathische Provokateur mit wüsten, herrlich spätpubertären Zettelinstallationen, sein Großauftritt bei der ersten Berlin-Biennale 1998, damals war er 28, machte ihn prompt bekannt und bald auch teuer. De Sade und Wagner, Hitler und andere Massenmörder, Saint-Just und Fremdenlegion – sein Pandämonium im Dienste der „Diktatur der Kunst“ wurde nun auch gemalt und in Bronze gegossen. Meese hat seine Rolle als raunender, polternder Clown des deutschen Kunstbetriebs schnell gefunden. Man bucht ihn, wenn man so etwas braucht. Nur will die Rolle nicht mehr passen zum erwachsenen Mann von Mitte vierzig. Witz nutzt sich ab, Provokation löst Achselzucken aus – und der begabte Darsteller muss aufpassen, durch notorisches Tun nicht zur Knallcharge zu werden.

Alles andere als ein Freispruch für Meese wäre absurd – und eine Katastrophe für die Kunstfreiheit in Deutschland. Die größte Strafe aber für ihn wäre, wenn ihn das Verfahren endgültig und jetzt erst recht auf seine abgenutzten Posen festlegt. Im Jahr 2016 inszeniert er den „Parsifal“ in Bayreuth – verdammt gefährlich für Erwartungserfüller wie ihn.

  • Jetzt nach Venedig – mit unserem Biennale-Spezial! Für Abonnenten versandkostenfrei unter: shop.art-magazin.de
  • Von Kunst zur Dienstleistungskunst: Routinier Jonathan Meese 2009 in Remagen und zu Beginn seiner Karriere 1998 in Berlin