Russland oder die beschränkte Freiheit der Kunst
Russland oder die beschränkte Freiheit der Kunst

Liebe Leserin, lieber Leser,
„Wir bewegen uns Richtung Fundamentalismus“, sagte Andrej Jerofejew nach der Urteilsverkündung im Moskauer Taganka-Bezirksgericht, „inzwischen sind wir schon froh, wenn ein Künstler nicht im Gefängnis landet.“ Ein Jahr lang hatte der Prozess gegen den ehemaligen Kurator der Tretjakow-Galerie und den ehemaligen Leiter des Sacharow-Museums Juri Samodurow gedauert (siehe Bericht Seite 108). Am Ende wurden Geldstrafen verhängt, jahrelanges Straflager, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, blieb ihnen erspart.
Das Urteil wurde milde genannt und ist trotzdem schrecklich. Was sollen die beiden Kuratoren verbrochen haben? In ihrer Ausstellung „Verbotene Kunst – 2006“ hatten sie Werke gezeigt, die der Zensur und Selbstzensur russischer Museen und Galerien zum Opfer gefallen waren: eine Madonna aus Kaviar von Alexander Kosolapow etwa, einen Jesus mit Mickymauskopf von Wjatscheslaw Sawko oder eine Putin-Persiflage von den Blue Noses. Bewusst provozierende Stücke, die an den Tabus der Gesellschaft rühren, Kirche, politische Kaste und Armee kritisieren. Die Kunst hatten sie im Sacharow-Museum in Verschlägen versteckt, nur durch Gucklöcher konnte man sie betrachten. Zur Anzeige gebracht wurde die Ausstellung von der nationalistischen Gruppe „Volksversammlung“, aus der kaum einer die Schau selbst gesehen hatte. Die Staatsanwaltschaft sah in der Ausstellung ein „verbrecherisches Komplott“, die Gucklöcher seien ein Mittel gewesen, die Schockwirkung des „kriminellen Vorhabens“ noch zu steigern. Die Richterin sah das genauso und sagte, Gläubige seien „psychisch traumatisiert“ worden.
Damit ist die Einschränkung der künstlerischen Freiheit in Russland nun manifest. Im art -Interview stellt selbst ein namhafter Kritiker und Kurator wie Viktor Misiano orthodoxe Gläubige und liberale Denker, die auf völliger Meinungsfreiheit bestehen, auf eine Stufe und bezeichnet beide als „radikal“ (siehe Seite 109). Er sieht den Prozess als „produktiv“, als „eine Erfahrung von Demokratisierung und als, wenn auch dramatische, Lektion in gesellschaftlicher Realität“. Eine Lektion, die zeigt, wie weit Russland noch – oder schon wieder – von den Selbstverständlichkeiten einer toleranten und freiheitlichen Gesellschaft entfernt ist.
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Protest gegen einen Prozess: Am 12. Juli stürmt der Künstler Piotr Werzilow von der Gruppe Voina (Krieg) in den Gerichtssaal und lässt dort symbolisch Kakerlaken frei; anschließend wird er verhaftet