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Tim Sommer, Chefredakteur -
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Die Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst (oben) gibt „Carte Blanche“, Chris Dercon kritisiert: „Wahnsinn“
der Kunstbetrieb diskutiert vieles mit Leidenschaft, erheblichem Theorieaufwand und unendlicher Ausdauer: Geschlechterdiskurse, Globalisierungsdebatten und Medienkritik laufen seit Jahrzehnten breit und auf hohem Niveau. Aber wenn es um eine handfeste, aber entscheidende Frage geht, erlahmt die Diskussion stets rasch und ohne Ergebnis. Dabei geht es um Macht: Wer bestimmt über Themen und Gedächtnis der Gesellschaft, wenn den öffentlichen Institutionen mangels Geld die Kraft dazu abhanden kommt?
Die Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst erprobt gerade, wohin das führt: In dem Programm „Carte Blanche“ dürfen Sammler, Galeristen oder jetzt der Verlag der „Leipziger Volkszeitung“ nach Belieben in den Museumsräumen ihre Kunst ausstellen – wenn sie dafür die Kosten übernehmen. Die einen befriedigen ihre Eitelkeit, die anderen spekulieren auf den Mehrwert, den eine „institutionelle Schau“ (und sei sie gekauft) ihren Künstlern verschafft. Das kleine Museum, einst ein frühes und viel gerühmtes Beispiel von Public Private Partnership, hat sich zwar vor vier Jahren noch einen neuen Ausstellungspavillon finanzieren lassen, nun aber reichen die Etats nicht, die Räume in Eigenregie zu bespielen. Direktorin Barbara Steiner rechtfertigt das Projekt als „offenes Experiment darüber, wie öffentliche und private Ressourcen gemeinsam genutzt werden können“.
Für Chris Dercon ist die Aktion einfach „Wahnsinn“. Dem Direktor des Münchner Hauses der Kunst gelingt es seit Jahren, populäre und sehr spezielle Schauen zu einem der besten und erfolgreichsten Programme im Land zu bündeln. Jetzt will er eine Debatte zünden, die das Selbstwertgefühl der öffentlichen Museen stärkt, sie ermutigt, wieder Meinungsführerschaft, Deutungshoheit und Hausrecht zu beanspruchen – und auf ein faires Verhältnis zu den Privatsammlern zu bestehen.
In seiner Berliner Vorlesung an der Humboldt-Universität diagnostizierte er die „Aneignung der Rolle des Museumsprofis durch jene, die ihn ursprünglich unterstützt haben“. Zeitgenössische Kunst kommt nur als prekäre Leihgabe in unsere Museen – die im Gegenzug die laufenden Kosten für die Pflege der geliehenen Werke oft über Jahrzehnte tragen. Viele Privatsammler, aber auch Firmen gründen längst ihre eigenen Museen und Galerien, statt sich mit den alten, gewachsenen Sammlungen zu verbünden – oder ihnen gar zu dienen, wie es früher üblich war. Das verändert – siehe Berlin, wo Kunst der letzten Jahrzehnte fast nur noch in eigenen oder an die Museen angedockten Räumen zu sehen ist – ganz entscheidend das Klima. Sicher: Ein Werk bleibt sich gleich, egal, wer es besitzt. Aber nur im Eigentum von Museen ist es allen Verwertungsinteressen entzogen, nur Museen sichern das Erbe auf Dauer und klären die Genealogie der Ideen. „Wir können uns im Gegensatz zu den vielen öffentlichen Privatsammlern keinen Verzicht auf Gedächtnisproduktion leisten“, sagt Museumsmann Dercon. „Wir müssen erkennen, dass Museen keine Showrooms sind.“ Bleibt abzuwarten, ob die Privatsammler sich auf eine neue Verbindlichkeit verpflichten lassen oder ob Dercons Aufruf zur Rollendiskussion mangels Schneid – oder auch nur Problembewusstsein – seiner Kollegen wieder verpufft. Es geht um nicht weniger als um „ein neues Modell zur Bedienung des Kunstsystems, das allen Teilnehmern entsprechendes Gewicht verleiht“.
Ihr Tim Sommer