Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – sagte ein gewisser Lenin
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – sagte ein gewisser Lenin
chefredaktion@art-magazin.de
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
es gab in Deutschland einmal ein Pendant zur DOCUMENTA. Es fand zehnmal statt – und kein einziger Skandal ist überliefert! Liegt es vielleicht daran, dass es strikt regional ausgerichtet war? Oder dass keine fremdländischen Kuratoren mit ihren egalitären Flausen eingebunden waren? Die Arbeitsgruppe zur Auswahl der Werke zählte 101 handverlesene inländische Fachkräfte, fast alles Professoren und Doktoren – und sie stand unter straffer Führung und perfekter Kontrolle: Der Präsident des Künstlerverbandes und der stellvertretende Kulturminister höchstselbst saßen dem Kontrollgremium der X. KUNSTAUSSTELLUNG DER DDR vor und schützten die Besucherschar und sich selbst vor jedweder Überraschung, böse wie gut.
Ja, der Vergleich ist schief und auch ein bisschen zynisch. Aber mir als gelerntem DDR-Bürger wurde streckenweise himmelangst um unseren freien und staatsfernen Kunstbetrieb angesichts der komplett überdrehten Diskussion (siehe auch Seite 132) um die DOCUMENTA FIFTEEN, die in einer erschreckend uninformierten Bundestagsdebatte voller Übergriffigkeiten gipfelte. Wem wurde da nicht alles ehrabschneidend und pauschalisierend Antisemitismus vorgeworfen oder dessen Duldung unterstellt! Ein haarsträubendes Versagen beim Kuratorenteam ruangrupa und eine fatale semiotische Unbeschlagenheit bei der Künstlergruppe Taring Padi haben zum schlimmsten Betriebsunfall in der Geschichte der DOCUMENTA geführt: Das Bild hätte nie gezeigt werden dürfen. Dass aber hier absichtsvoll rassistische Gesinnungen vertreten wurden, konnte an keinem Punkt nachgewiesen werden. Im Gegensatz zur aufgeregten Debatte funktionierten die Reflexe zwar zu spät, dann aber sicher: Es wurde im Konsens eingeräumt, dass hier Grenzen überschritten wurden, eingesehen, dass Entschuldigung und Abbitte nötig sind, um den Frieden wiederherzustellen und den Tabubruch zu heilen.
Mich wundert es nicht, dass sich die Künstler der DOCUMENTA, wie man hört, geweigert haben, sich einer wie auch immer gearteten Begutachtungskommission zu unterwerfen. Sie wissen, siehe oben, wohin das führen kann. Und demokratische Politiker sollten auch wissen, dass Freiheit der Kunst nur im Vertrauen zu haben ist, nicht durch Kontrolle. Ja, Vertrauen kann bitter enttäuscht werden – aber staatliche Kontrolle tötet die Kunst. Bleibt das unterirdische Kommunikationsverhalten der DOCUMENTA, die es bis zum Redaktionsschluss nicht geschafft hat, in einen fruchtbaren Dialog mit ihren Kritikern zu treten. Die Kasseler Institution braucht nach der Demission der gescheiterten Generaldirektorin Sabine Schormann solidere Strukturen und vor allem: sprechfähiges Personal.
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Eröffnungs-Feierlaune – dann der große Kater: Die documenta fifteen musste ein Werk von Taring Padi wegen klischeehaft-antisemitischer Karikaturen abbauen und steht seitdem in der Krise