Editorial
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Liebe Leserin, lieber Leser, einmal geht ein Gespenst um in Europa, genannt das „Prekariat“. Der Begriff, eben aus den Seminaren in die Feuilletons gehuscht, bezeichnet eine neue Klasse von Akademikern, die nach dem Studium von Praktikum zu Praktikum, von Projekt zu Projekt, von Stipendium zur Denkpause strebt oder treibt - ohne Chance auf eine Festanstellung. „Prekär“ heißt eigentlich „durch Bitten erlangt“ und beschreibt sehr missliche, heikle Lagen. In Berlin nennt man die neue Klasse weniger vornehm „urbane Penner“: Sie sitzen mit ihren Laptops und Handys in den Cafes, schreiben Bewerbungen oder Konzepte - und leben von Gelegenheitsjobs und elterlicher Subvention.

Die Künstler kennen die Nöte der „Generation Praktikum“ seit Jahrhunderten. Als die Maler aus dem Zunftzwang des Mittelalters ausbrachen, ließen sie auch die Sicherheiten zurück, die diese städtischen Gemeinschaften boten. Aus Handwerkern mit klarem Regelwerk bis hin zur Witwenversorgung wurden freie Verkäufer ihrer Ideen, Talente und Fertigkeiten. Sie hangelten sich von Auftrag zu Auftrag, von Verkauf zu Verkauf. Ausbildung war das eine. Es war wichtig und hilfreich bei einem Tizian, Cranach oder Rubens gelernt und gearbeitet zu haben. Aber eine eigene Existenz oder gar Wohlstand konnte nur erringen, wer Fürsten oder reiche Bürger für seine eigenen Werke begeistern konnte. „Durch Bitten erlangt“ war manches, heikel blieb die Existenz meist lebenslang. So „prekär“ wie übrigens bei den meisten Menschen außerhalb der Wohlstandszone Europa bis heute.
Unlängst hat eine Erhebung der Künstlersozialkasse, bei der die meisten Kulturarbeiter in Deutschland Mitglied sind, ergeben, dass das monatliche Durchschnittseinkommen der Versicherten 901 Euro beträgt. Künstler haben gelernt, dass sie Lebenskünstler sein müssen, um durchzukommen. Nebenjobs (etwa „Werkstatt“-Arbeiten für erfolgreiche Künstler, Aushilfen bei Galeristen und Sammlern - aber auch völlig kunstfremde Jobs sind die Regel), aber auch Querfinanzierung über Gatten, Tante oder Eltern sind zumindest phasenweise üblich. Es ist ein selbst gewähltes Schicksal, wie die aktuelle Studie der Universität Bonn zeigt: Künstler tauschen ganz bewusst Freiheit gegen Sicherheit.
Die jungen Germanisten, Theaterwissenschaftler, Sinologen, Kulturwissenschaftler, Kunsthistoriker, Romanisten, die sich nach dem Uni-Abschluss jetzt als „Prekariat“ bezeichnet sehen, können von den Künstlern lernen. Unter den widrigsten Umständen unbeirrt an den Wert der eigenen Talente zu glauben, das leben Maler und Bildhauer seit Jahrhunderten vor. Sie sind die Pioniere einer neuen Lebensform, jenseits der guten alten bundesrepublikanischen Gewerkschaftswelt, die so niemals wieder kommt.