Liebe Leserin, lieber Leser
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schon der geringste Verdacht auf Kunstzensur ruft in Deutschland zuverlässig die Presse auf den Plan. Das ist beruhigend. Auch heute noch, wo schon jedes Tabu gebrochen scheint, müssen die Spielräume der Kunst ständig verteidigt werden, gegen die Zensoren aus Spießbürgerlichkeit, aus politischer Besserwisserei, aus religiöser Borniertheit. Aber wie verhält es sich mit Gregor Schneiders Projekt „Cube, Venice 2005“ für den Markusplatz, dessen Verbot für solchen Wirbel in den Feuilletons sorgte, dass man zeitweise meinen konnte, die ganze Biennale sei ausgefallen? Venedig versagte ihm ganz zu Recht die Genehmigung: Nicht alles, was sich als Konzept wunderbar diskutieren lässt, ist auch verträglich mit der Wirklichkeit.
Schneider, der auf der Biennale 2001 mit seinem beklemmenden Totalumbau des deutschen Pavillons einen Goldenen Löwen gewonnen hatte, plante auf Einladung der Kuratorin Rosa Martinez die Errichtung eines Riesenquaders auf dem Markusplatz: ein mit schwarzem Stoff bespanntes Metallgerüst sollte dort stehen - 15 Meter hoch, zwölf Meter lang, 13 Meter breit. Die Kaaba in Mekka ist ein schwarz verhängter Steinbau - 15 Meter hoch, zwölf Meter lang, zehn Meter breit. Seine Idee, so erzählt Schneider, habe er gemeinsam mit einem Moslem aus Mönchengladbach-Rheydt entwickelt. Ursprünglich wollte er die zentrale Pilgerstätte des Islam exakt rekonstruieren, „um so die Wirkung eines der unfassbarsten, geheimnisvollsten und zugleich schönsten Bauwerke der Welt auch einem westlichen Publikum näher zu bringen“. Daraus hat sich dann eine angeblich (siehe Maßvergleich) „völlig eigenständige, abstrakte und raumbestimmende Skulptur entwickelt“. Im Interview mit der Zeitung „Die Welt“ behauptet Scheider gar, sein Bau „sei formal nicht identifizierbar mit der Kaaba in Mekka“, die Absage richte sich mithin „gegen einen abstrakten Kubus, eine Ikone der modernen Kunst“.
So ist es eben im Kunstbetrieb: Man kann die Formen deuten, wie man’s braucht. Identifizieren soll man die Skulptur mit der Kaaba nicht können, assoziieren jedoch soll man sie müssen. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass Islamisten solche kunstscholastischen Erwägungen anstellen, wenn sie ihren heiligsten Ort zwischen die Walzergeiger vom Gaffe Florian, Taubendreck und die Beutestücke der Kreuzfahrer in der Fassade von San Marco verpflanzt sähen. Auch wenn nichts passiert wäre - zum Schutz des Platzes hätte ein immenser Aufwand getrieben werden müssen.
Gregor Schneider ist ein großartiger Künstler. Sein Projekt für Venedig aber ist gut gemeint, doch völlig weltfremd. Eine Umsetzung wäre Irrsinn gewesen. Mit Zensur hat das Verbot wenig zu tun, aber mit Vernunft.
