Der Alltag ist politisch

Der Alltag ist politisch

  • TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de
  • Genreszenen gestern und heute: Jan Vermeer (»Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster«, 1657/59) zeigt den Alltag im niederländischen Goldenen Zeitalter; unsere Titelkünstlerin Billie Zangewa (»Sunday Morning Pursuits«, 2020) zelebriert stolz ihr Leben in Südafrika

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

unser Titelbild zeigt eine junge schwarze Frau, die Zeitung liest. Ist das politisch? Eigentlich nicht. Wir kennen Vermeer van Delfts Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster aus der Dresdner GEMÄLDEGALERIE, das ist ein ähnlich idyllisches Motiv. Als wir die Geschichte über neue textile Kunst planten, die sich heute als Sammelbecken für diverse Ansätze entpuppt, politische Anliegen in die Kunst zu schleusen, dachten wir eigentlich an ein Thema, das mal absieht vom omnipräsenten Corona-Covid-19-Komplex, der alles überdeckt, an dem die Welt sonst noch krankt. »Craftivists«, ein Kunstwort aus den englischen Begriffen für »Handwerk« und »Aktivist«, beschreibt den Trend: aus dem hergebrachten Tun der Ausgebeuteten und Entrechteten ein Statement zur aktuellen Lage zu gewinnen.

Dann starb der Schwarze George Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten, und der Proteststurm unter der Parole »Black Lives Matter« brach los. Der Bericht (ab Seite 20) über die stickenden, quiltenden, webenden Künstlerinnen und Künstler an der Rassen- und Genderfront bekam plötzlich eine ungeahnte Aktualität. Auch, weil sich im Protest gegen willkürliche und rassistische Polizeigewalt die aufgestaute Wut gegen ein System Bahn bricht, das selbst vor der Seuche nicht alle gleich aussehen lässt – wirtschaftlich und nach der Zahl der Opfer. Ich muss gestehen, dass mich viele der dezidiert politischen Werke unserer Zeit an DDR-Kunst erinnern, als Haltungsnoten die Wertschätzung bestimmten. Und auch in unserer Geschichte finde ich nicht jede Position künstlerisch wirklich überzeugend – aber das mag jeder selbst entscheiden. Unsere Titelkünstlerin Billie Zangewa, geboren in Malawi, in Johannesburg lebend, jetzt mit prominenten Galerien in New York und Paris, hält den Ball flacher. »Der ultimative Akt des Widerstands «, sagt sie, »ist, sich selbst zu lieben.« Sie findet die Motive für ihre genähten Seidencollagen in ihrem täglichen Leben. Es geht »um mich, um meine Erfahrungen als Individuum «, erklärt sie. Und sie ist sicher, mit ihrer Arbeit den »Platz von schwarzen Frauen in der Welt emporzuheben«.

Und das macht ihre Kunst so politisch wie Vermeers Genrestück aus dem (nebenbei gesagt kolonial)-goldenen niederländischen Zeitalter: Sie zelebriert stolz eine errungene Autonomie, die als Leitbild taugt.

PS: Die Zahl der Partnermuseen, in denen unsere Abonnenten mit der artCard ermäßigten Eintritt erhalten, hat sich auf über 300 erhöht. Bestimmt ist in Ihrer Nähe eines dabei!