Steine, die die Welt bedeuten
Steine, die die Welt bedeuten
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
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TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de. -
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Forscher oder Künstler? Luigi Lineri in seinem unfassbaren Lapidarium in Zevio und mit unserer Italien-Korrespondentin Ute Diehl am Ufer der Etsch, seinem Jagdgrund. In der Mitte ein Fundstück des Autors vom Ostseestrand
Sommerzeit ist Steinzeit. Fast jeder von uns sammelt Steine, am Strand, an Flüssen, in den Bergen: Handschmeichler, Fossilien, Hühnergötter, Klappersteine, Farbspiele oder auch Formen, in die wir etwas hineinprojizieren oder aus denen wir etwas herauslesen können. Jedenfalls solange das arbeitsbefreite Sommerhirn so spielfreudig ist.
Luigi Lineri hat daraus eine Lebensaufgabe gemacht. Der Bericht unserer Italien-Korrespondentin Ute Diehl von ihrem Besuch in seinem Gehöft in Zevio an der Etsch (ab Seite 84) gehört sicher zu den merkwürdigsten Geschichten, die wir je gedruckt haben. Der ehemalige Schuster ist fest davon überzeugt, den Anfang der Kunst gefunden zu haben. Bei Streifzügen – täglich, seit 50 Jahren – sammelt er Kiesel, die er für prähistorische Skulpturen hält: Widderköpfe, Vögel, Fische, Genitalien hat er im Geröll entdeckt. Und zwar jeweils Dutzende, Hunderte davon. Seinen Beruf hat er aufgegeben, um sich ganz seiner Passion widmen zu können, sein Haus und Hof sind über und über voll von seinen Funden, säuberlich geordnet nach Formen, analog zu seiner Typologie. In seinem Kopf ist die Theorie dazu, Bilder von schleifenden, hämmernden Ahnen, die ihre magischen Werke dem Fluss darbrachten, der sie über die Zeiten irgendwann wieder zu runden Kieseln rollt. Es ist völlig unklar, was aus dem unglaublichen Lapidarium von Zevio wird, wenn sein Schöpfer einmal nicht mehr ist.
Kein Prähistoriker hat sich je seine Sammlung angeschaut, geschweige denn sich dazu geäußert. Deshalb können auch wir nicht sagen, was dran ist an Lineris Lebensthese, dass nicht die Etsch die Schöpferin dieser Dinge ist, sondern eine geheimnisvolle Alpenkultur der Vorzeit. Ist aber vorerst auch nicht nötig. Denn auch wenn der Amateurarchäologe Lineri von der Zunft der Wissenschaftler geschnitten wird – die Künstler sollten ihn als einen der ihren anerkennen. Was er mit unbändiger Fantasie und Leidenschaft ganz für sich geschaffen hat, ist ein Gesamtkunstwerk, das uns beweist, dass sich die Welt auch ganz anders betrachten lässt.
Deshalb gehört diese Geschichte in ein Kunstmagazin. Idealerweise im Sommer, wenn wir alle die Zeit und die Lust haben, wenigstens ein bisschen Luigi Lineri zu sein.
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