Wie die Muslime von Venedig keine Moschee bekamen

Wie die Muslime von Venedig keine Moschee bekamen

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

Kunst soll relevant sein, finden wir. Aber sobald diese Relevanz in Brisanz umschlägt, wenn wirklicher Ärger droht und nicht nur ein bisschen Kunstkritik, dann ist es mit der Kunstfreiheit auch schnell zu Ende. Wie jetzt mit dem isländischen Pavillon von Venedig. Christoph Büchel hatte die seit 1969 ungenutzte, privatisierte Kirche Santa Maria della Misericordia im stillen Stadtteil Cannaregio in eine Moschee verwandelt. Und zwar in ein richtiges Gebetshaus mit Imam, Minbar, Gebetsteppich – und einem Mecca-Cola-Automaten, so viel Ironie muss sein.

Es war die erste Moschee in der Geschichte von Venedigs Altstadt, geplant für die Dauer der Biennale. Sonst müssen die Muslime zum gemeinsamen Beten aufs Festland. Nach zwei Wochen war Schluss mit dem interreligiösen Dialogangebot: Es sei zwar ein Kunstwerk genehmigt gewesen, nicht aber ein Ort der Religionsausübung. Die katholische Kirche argumentierte, die Kirche sei nie gültig profaniert worden. Außerdem sei wegen des Besucheransturms die Sicherheit nicht gewährleistet. Hier scheint der wirkliche Grund zur Schließung der Kunstmoschee durch: schlichte Angst. Und zwar vielleicht weniger vor Anschlägen als vor einem neuen Aufreger bei den Regionalwahlen im Veneto, wo Flüchtlings- und Migrationsfragen das heißeste Thema waren.

Ja, Christoph Büchel ist ein Skandalkünstler, der gerne Kunst und Realität vermischt, um Ärger zu machen. 2010 hat er einen echten Swingerklub ins Wiener Secessionsgebäude verfrachtet. Dasselbe Prinzip wirkt hier: Natürlich hätte er, wenn er nur den Muslimen etwas Gutes tun wollte, die Moschee auch vergleichsweise geräuschlos in einem gemieteten Palazzo einrichten können. Zuspitzen und provozieren aber ist sein gutes Recht als Künstler. Und dieses Recht zu verteidigen wäre die Pflicht der Biennale- Leitung gewesen. Aber Präsident Paolo Baratta schweigt ebenso wie Hauptkurator Okwui Enwezor, sie machen sich so zu Komplizen der politischen Realitätsverweigerer.

  • Zur Biennale-Eröffnung mischten sich noch Gläubige und Kunstpilger im isländischen Pavillon CHRISTOPH BÜCHEL, THE MOSQUE

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