Christo oder die Kunst der schönen Sinnlosigkeit
Christo oder die Kunst der schönen Sinnlosigkeit

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Christos Kunst ist aus der Zeit gefallen, möchte man meinen. Oder was soll man davon halten, wenn einer ohne großes gesellschaftsanalytisches, globalisierungskritisches, nachhaltigkeitspredigendes Konzept leuchtende Pontonbrücken aus Plastik über einen italienischen Bergsee schlägt – noch dazu zur Privatinsel eines Waffenfabrikanten? Und all der Aufwand nur für ein paar Tage!
Was mich an Christos Aktionen fasziniert, ist gerade ihre scheinbare Sinn-Losigkeit. Denn in ihr blitzt etwas von dem egomanischen Wahnsinn auf, den die Kunst zwischen Investment-Chichi und Problembeflissenheit heute oft verloren hat. Christo setzt Himmel und Hölle in Bewegung, letztlich nur, um der puren Schönheit zu huldigen – und um Menschen zusammenzubringen, ihnen ein unvergessliches Erlebnis zu bereiten. Wer das Eventkunst nennt, hat keinen Sinn für heroische Poesie.
Unsere Autorin Ute Thon hat den 81 Jahre alten Künstler am Lago d’Iseo getroffen, mitten im Gewühl der Vorarbeiten für sein erstes Großprojekt seit The Gates im New Yorker Central Park vor elf Jahren. Seine Frau und Mitstreiterin Jeanne-Claude ist 2009 gestorben. Er vermisst sie jeden Tag, aber irgendwie muss es auch ohne sie gehen. Kein Zweifel: Christo will es noch einmal wissen. Die technischen Probleme hat er im Griff, ebenso die Behörden und die Finanzierung. Es kann also losgehen. Und vielleicht stellt sich ja heraus, dass Christos Kunst in keine Zeit besser passt als in unsere: Es wird ein Selfie-Festival, das die ganze Welt in Echtzeit mit einbezieht. Lesen Sie unsere große Vorabreportage ab Seite 20.
Premiere! Während der ART COLOGNE wurde der erste art-Kuratorenpreis verliehen, mit dem wir – auch in Ihrem Namen, liebe Leserinnen und Leser – künftig das Handwerk des Ausstellungsmachens würdigen wollen, von dem wir gemeinsam so profitieren. Die Fachjury kürte Susanne Pfeffer zur ersten Preisträgerin, für ihre Schau »Inhuman« im Kasseler FRIDERICIANUM, dessen Direktorin sie ist.
Christo mit Zeichenstift, Christo mit Bauhelm. ART -Redakteurin Ute Thon traf den Künstler mit den zwei Naturen vorab am Lago d’Iseo

P.S: Der Lokalpatriotismus war stärker als unsere hanseatische Zurückhaltung: Zur Wiedereröffnung der Kunsthalle hat diese Ausgabe in Hamburg ein eigenes Titelbild.
DETAIL AUS: THE FLOATING PIERS, 2-TEILIGE COLLAGE, 2014, 67 X 78 CM UND 78 X 31 CM
THE FLOATING PIERS, 2-TEILIGE COLLAGE, 2014, 38 X 244 CM UND 107 X 244 CM