Plädoyer für einen Rollentausch

Plädoyer für einen Rollentausch

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

die Berufung von Chris Dercon als Nachfolger von Frank Castorf an der »Volksbühne« hat ein mustergültiges Berliner Lamento verursacht. Ein Eventhansel, ein Kunstmensch, ein Kurator gar als Intendant dieser Trutzburg der Systemkritik? Erstaunlich, wie stockkonservativ sich die avantgardistische Theaterelite gibt, wenn es um die eigenen Pfründen geht. Vermutlich aber wird sich die mutige Besetzung mit dem Seiteneinsteiger aus der Londoner TATE MODERN noch als kluger Schachzug erweisen, der neue Horizonte für die »Volksbühne« eröffnet. Noch immer prangt der trotzige Schriftzug »OST« über dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz.

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR

chefredaktion@art-magazin.de

Chris Dercon, 1958 im belgischen Lier geboren, ist weder ein klassischer Museumsdirektor im Tweedanzug, noch steht er im Glitzersakko für Eventkultur. Seine Jahre als Direktor des Münchner tate modern, waren die bislang besten der Institution. Er hat mit seinem »kritischen Rückbau« die Nazigeschichte des Baus freigelegt und sehr intelligent Design, Architektur und Politik in das Ausstellungsprogramm integriert, um Relevanz zu erzeugen. Auch in dem Londoner Kunstkraftwerk TATE MODERN, das er seit 2011 leitet, setzt er Maßstäbe: Hier, in der alten Welthauptstadt des Empire, integriert er konsequent Außereuropäisches, ersetzt die abendländische Vogelperspektive durch eine Vielfalt der Sichten, die einer globalisierten Welt entspricht.

Aber kann er ein Schauspielhaus leiten? Das muss sich zeigen. Die Unterscheidung von Theater und Museum ist bis heute nicht obsolet geworden, noch immer ist das Bild an der Wand ebenso ein Ereignis wie ein Mensch vor Menschen auf der Bühne. Aber die Grenzen sind dennoch längst fließend – wie man nicht erst weiß, seit 2011 der Regisseur Christoph Schlingensief postum den Golden Löwen auf der Kunstbiennale von Venedig gewann. Performance, Film, Musik, Tanz spielen hier wie dort ihre Rolle – schon deshalb kann der Seitenwechsel befruchtend wirken. Ich freue mich darauf.

Nebenbei: Ich bin gespannt, welches Museum Frank Castorf wohl demnächst übernimmt – und ob der Kunstbetrieb dann auch so herrlich explodiert!

  • Die Berliner Volksbühne hat seit den Neunzigern unter Frank Castorf Theatergeschichte geschrieben
  • Soll ab 2017 neue Impulse im Theater setzen: Tate-Modern-Direktor Chris Dercon, hier 2014 im ART-Interview

PS:

Parallel zu dieser Ausgabe kommt unser großes Biennale-Sonderheft in den Handel – mit aktuellen Berichten und den besten Bildern aus Venedig