Cornelius Gurlitt und die ausgerenkten Kräfte

Cornelius Gurlitt und die ausgerenkten Kräfte

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

zum Redaktionschluss kam die Meldung: Cornelius Gurlitt ist tot. Im Theater ist das Stück aus, wenn die tragischen Helden von der Bühne gehen. Dieses Drama aber wird weitergehen, das Ende ist völlig offen. Juristisch wird alles schwerer denn je: Gilt seine Vereinbarung mit der Bundesregierung zur Restitution noch? Wer tritt das Erbe an, und wie wird dann verfahren? Erlahmt nun wieder die Diskussion, die sich an Gurlitt und auf seine Kosten endlich entzündet hat? Und was war das für ein Leben? Das »Phantom« wurde er genannt, der Erbe eines »Nazi-Schatzes«, wie die erste Schlagzeile lautete, die in das diskrete Dasein von Cornelius Gurlitt platzte, den man mit verdächtig viel Bargeld in der Tasche an der Schweizer Grenze ertappt hatte. Mutmaßungen bleiben über ihn, die ungeklärt nebeneinanderstehen: War Cornelius Gurlitt, wofür einiges spricht, ein Schlawiner, der wohlwissend um die trübe Geschichte der von seinem Vater zur NS-Zeit zusammengetragenen Bilder seinen Lebensunterhalt aus ihrem Verkauf bestritten hat? Oder war er wirklich schon immer der weltfremde Kauz, als der er sich zeigte, als man ihn als kranken, alten Mann gnadenlos an die Öffentlichkeit zerrte? Dessen sämtliche Bilder, auch die unumstrittenen, man aus der Wohnung konfiszierte – aufgrund von Anschuldigungen, die sich dann in Luft auflösten. Der starb, ohne sich zu erklären, und gewiss, ohne Frieden zu finden. Und was hat ihn bewogen, seine Sammlung gerade dem Kunstmuseum Bern zu vermachen, das sich jetzt mit diesem völlig unerwarteten Danaergeschenk auseinanderzusetzen hat? Er muss das Haus geliebt haben, vermutlich war er öfter dort. In dem ältesten Kunstmuseum der Schweiz hängt ein herrliches Materialbild von Kurt Schwitters mit dem Titel Ausgerenkte Kräfte . Ich stelle mir vor, wie Cornelius Gurlitt nach erledigten Geschäften in verschwiegenen Kunsthandlungen und Banken immer wieder vor diesem dadaistischen Räderwerk aus Schlagzeilen und verwirrten Fragmenten saß, das sich auf die Wirren nach dem Ersten Weltkrieg bezieht. Ausgerenkte Kräfte , wäre das nicht auch ein wunderbarer Titel für eine Autobiografie über sein schrecklich in die Geschichte verstricktes, einsames Leben gewesen?

  • Cornelius Gurlitt, wie die Welt ihn kennenlernte: als seltsamen, von Presse und Staatsanwaltschaft verfolgten Kauz
  • Das KUNSTMUSEUM BERN soll Gurlitts umstrittene Bilder erben, weiß aber noch nicht, ob es sie will. Hier hängt bereits Ausgerenkte Kräfte von Kurt Schwitters, der Titel passt zu Gurlitts Leben

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