Die »Milch der Träume« – und ein Schluck Optimismus

Die »Milch der Träume« – und ein Schluck Optimismus

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  • Die New Yorker Kuratorin Cecilia Alemani verantwortet die Internationale Ausstellung der 59. Venedig-Biennale. Männliche Künstler in ihrer Schau: 20 Prozent. Auch die Goldenen Löwen für das Lebenswerk bekommen zwei Frauen: die chilenische Künstlerin Cecilia Vicuña (oben) und die deutsche Bildhauerin Katharina Fritsch

unser BIENNALE-Vorschauheft ist fertig, die Flüge nach Venedig sind gebucht. Aber noch völlig unklar ist, wohin die Reise wirklich geht: ins Hier und Jetzt der neuen Gewaltepoche oder doch zurück in die Zeit der Pandemie, die uns plötzlich so idyllisch erscheint und die wir doch eben noch als so einschneidend und schrecklich empfunden hatten. Die Kunst kann unmöglich Schritt halten mit diesem weltweiten Überbietungswettbewerb der Krisen und Katastrophen.

Unsere Italienkorrespondentin Ute Diehl hat ihr Interview mit BIENNALE-Leiterin Cecilia Alemani (ab Seite 66) noch kurz vor dem Krieg in der Ukraine geführt, eine Aktualisierung wollte Alemani nicht liefern. Und sie ist ja auch wirklich nicht zu beneiden: In zwei Jahren Lockdown hat die New Yorker Kuratorin an ihrem Konzept gefeilt, in unzähligen Videocalls 213 Künstler und vor allem Künstlerinnen eingeladen, 1433 Werke geordert und 80 beauftragt, um die große internationale BIENNALE-Schau »The Milk of Dreams« zu realisieren, die mutmaßlich wichtigste in ihrem Leben. »Milk of Dreams«, ein Zitat der Künstlerin Leonora Carrington, soll an den Surrealismus andocken, vom Ende des Anthropozentrismus erzählen, von »neuen Gemeinschaften mit dem Nicht-Menschlichen, dem Tier und der Erde«, der »Verwandtschaft zwischen dem Belebten und dem Unbelebten«. Alemanis Menschheitsdiagnose: »Der Blick geht nach innen. Die zunehmende Neigung zur Introspektion ist unübersehbar.« Da wird einem doch etwas Angst, dass ihre »Milch der Träume« schon einen kleinen Stich bekommen hat.

Ich bin gespannt, wie es sich anfühlen wird, in Alemanis Traumwelten aus Lockdown-Zeiten einzutauchen. Schließlich ist der Surrealismus der zwanziger und dreißiger Jahre ja nur scheinbar und oberflächlich eine Flucht aus der Wirklichkeit gewesen. Die Suche nach den inneren Abgründen und Höhenflügen war undenkbar ohne die Erfahrung der entfesselten Gewalt des 20. Jahrhunderts. Vielleicht wird Alemanis Versprechen einer »sehr optimistischen Ausstellung« für das 21. Jahrhundert ja doch eingelöst – und wir trinken in Venedig mit der »Traummilch« eine kräftige Dosis Weltvertrauen und Zuversicht!

PS: Auch in dieser Ausgabe müssen wir leider wieder auf ein Alternativpapier ausweichen, weil die Lieferschwierigkeiten der Industrie anhalten. Wir hoffen auf Ihr Verständnis. Gute Nachricht: Am 3. Juli erscheint unser großes ART-Spezial zum Kunstsommer 2022 mit über 160 Seiten Bildreportagen aus Venedig und von der DOCUMENTA in Kassel. Papier ist gesichert ...