Von Schnittmengen und Triggerpunkten
Von Schnittmengen und Triggerpunkten




LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
ja, wir haben die SHARJAH-BIENNALE im erzkonservativen Emirat Sharjah bislang nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Sie war uns schlicht suspekt. Bei allem Renommee: Warum sollten wir über ein Festival berichten, das den Zweck verfolgt, mittels zeitgenössischer Kunst einer strengen Alleinherrschaft einen liberalen und kosmopolitischen Anstrich zu geben? Das wollten wir Ihnen ersparen. Oder zeigt sich in diesem Ignorieren schon unsere eurozentrische Perspektive?
Zur 15. Ausgabe haben wir nun den Versuch gewagt, versprach doch das noch von Okwui Enwezor inspirierte Konzept alles andere als eine totalitäre Nabelschau. Schließlich gilt der legendäre, 2019 gestorbene Kurator der DOCUMENTA 11 als Vordenker und Wegbereiter des globalen Perspektivwechsels. Und Scheicha Hoor Al Qasimi, als Kuratorin der Biennale, ist zwar die Tochter des Herrschers – aber auch einer der profiliertesten und am besten vernetzten Player im Kunstbetrieb.
Für unseren Autor Till Briegleb wurde die Reise zur höchst zwiespältigen, fast schizophrenen Erfahrung. Er sah eine faszinierende, nahezu tabulose Schau, die nicht nur die Künstlerliste, sondern auch die Themenfelder mit den aktuellen westlichen Biennalen oder der DOCUMENTA teilt. Allerdings wurde im Gespräch mit der Prinzessin-Kuratorin auch klar, wo hier die Triggerpunkte im scheinbar so gemeinschaftlichen Diskursgefüge sind. Die Diskrepanz von freier Kunst und restriktivem System mag sie nicht anerkennen: »Ständig nehmen Menschen im Westen Dinge an und stülpen diese Ansichten dann über uns«, sagt sie empört. Auch die Ansichten Al Qasimis zum Zustand der deutschen Demokratie sind schwer zu ertragen.
Im Nachgang zum Antisemitismus-Skandal auf der letzten DOCUMENTA sprach der jüdische Soziologe Natan Sznaider von der nötigen »Ambiguitätstoleranz«, also dem Aushalten von sehr konträren Standpunkten in einer komplizierten Welt. Das mag ein Anfang sein: sich aus europäischer Perspektive erst einmal zu interessieren, auch wenn es bedeutet, sich mit Zumutungen zu konfrontieren. Umgekehrt ist es ja auch so. Lesen Sie Till Brieglebs Reportage aus Sharjah ab Seite 20.


PS: Neustart nach Corona: In diesem Heft verkünden wir die Shortlist des ART-Kuratorenpreises für die beste Ausstellung des Jahres 2022. Herzlichen Glückwunsch an alle Nominierten!