Liebe Leserin, lieber Leser,

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Tim Sommer, Chefredakteur

was hat der Dürer-Hase in Madrid verloren? Nichts. Er hätte Wien nicht verlassen dürfen, nicht für vier Wochen, nicht für drei Monate. Und vor allem nicht, um dem Ehrgeiz eines Museumsdirektors zu dienen. Das Schicksal hat dieses bemalte Blatt Papier über 500 Jahre lang erhalten. Tausend glückliche Zufälle hat es dazu gebraucht. Krieg, Funkenflug, Wasserschäden, Schimmelbefall, kritzelnde Banausen … nichts ist passiert. Nun hat das Werk seinen Platz im Depot der Wiener Albertina, wo es sicher, trocken, dunkel, bei konstanter Temperatur gelagert werden soll, bis in alle Ewigkeit. Ganz selten darf das fragile Meisterblatt hervorgeholt werden, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass hinter all den Reproduktionen wirklich ein Original existiert: Albrecht Dürers „Feldhase“ von 1502 als Idealbild einer Naturstudie - akribisch, frei und virtuos, in jedem Strich wissenschaftlich exakt und künstlerisch deutend zugleich. Es ist ein unersetzliches Blatt. Es zeigt die Weltwahrnehmung der westlichen Kultur präzis und lapidar wie kaum ein zweites Werk. Eine treue Reproduktion beweist diese Qualität in einer Dürer-Schau genauso gut wie das Original. Und so wird es in Wien ja auch gehandhabt: Aus gutem Grund ist der echte Hase zu Hause praktisch nie zu sehen. Licht schadet ihm, jeder Transport birgt Gefahren. Dass er zur großen Dürer-Schau in Madrid nun drei Monate am Stück im Prado hängen sollte, macht eine höchst gefährliche Entwicklung im Ausstellungsbetrieb sichtbar: Die Quote diktiert zunehmend das Handeln, Statistik geht vor Sicherheit.

Vor der Eröffnung der Dürer-Schau 2003 in Wien präsentierte Klaus Albrecht Schröder den „Feldhasen“ von Albrecht Dürer (Deckfarben und Aquarell, 25 X 22,5 cm, 1502). Bald wurde hier das Original durch eine Replik ersetzt

Nie war die Kunst so verfügbar wie heute. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Werke reisen, sich in immer neuen Konstellationen zusammenfinden. Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder, Herr über die weltweit bedeutendste Sammlung von Dürer-Grafik, hatte seine Schätze 2003 in einer glanzvollen, durch Leihgaben aus aller Welt ergänzten Ausstellung präsentiert - inklusive Feldhase. Um diese Schau zusammenzubringen, hatte der Museumsmanager dem Prado und der Washingtoner National Gallery im Gegenzug kostbarste Leihgaben versprochen. Die Genehmigung des österreichischen Bundesdenkmalamtes, die dann nicht erfolgte, galt als bloße Formsache. Für Schröder ging es bei dem Ausstellungsprojekt um das eigene Renommee. Um das zu steigern, wollte er Prado und National Gallery erlauben, was sich die Albertina selbst nicht genehmigt.

Museen sollen sammeln, bewahren, erforschen und zeigen. Das Bewahren ist ihre am wenigsten aufregende - aber eben die wichtigste Aufgabe. Es ist egal, wie viele Menschen 2005 den „Feldhasen“ sehen. Dass er in Zukunft noch bewundert werden kann, nur daran müssen sich Museumsleute messen lassen.