Wenn Künstler als Machtelite missverstanden werden
Wenn Künstler als Machtelite missverstanden werden



LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
die Diskussion um den Begriff der »kulturellen Aneignung« als Seitentrieb der wuchernden identitätspolitischen Debatten treibt auch jenseits von bereinigten Karl-May-Editionen und bösen Faschingskostümen seltsame Blüten: Dürfen weiße Musiker Reggae spielen, ohne Ärger zu riskieren? Droht der Shitstorm, wenn ein Mann die Verse einer Frau übersetzt oder eine weiße Frau die einer schwarzen? Muss die Rolle mit der Herkunft des Schauspielers zusammenpassen und nicht nur mit seinem Spiel?
Dabei kommt die Kritik sogar oft aus den eigenen Reihen: Künstler maßregeln sich gegenseitig – oder gleich selbst. Kürzlich warnte die gefeierte nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie sogar vor einer drohenden »Epidemie der Selbstzensur« aus Angst, jemandem zu nahe zu treten oder ihn zu verletzen.
Die bildende Kunst blieb, wie Ralf Schlüter in seinem Essay ab Seite 74 darlegt, bislang weitgehend von solchen Anwürfen verschont. In Deutschland hat einzig die BERLIN-BIENNALE im letzten Sommer für Schlagzeilen gesorgt, als die irakischen Künstler Layth Kareem, Raed Mutar und Sajjad Abbas ihre Werke zurückzogen, um gegen eine Arbeit des Franzosen Jean-Jacques Lebel zu protestieren, die Folteropfer aus Abu Ghraib zeigte – allerdings gewiss nicht, um diese zu verhöhnen.
Nun sind Gefühle niemandem vorzuwerfen. Und auch die Diskussion um das »Kapital«, das kulturelle Ressourcen wie Wissen oder Formen darstellen, kann fruchtbar sein oder wichtig , wie die über das Unten und Oben im kulturellen Gefüge der Welt. Aber immer dann, wenn konkrete Künstlerinnen und Künstler als Einbrecher in fremde Identitäts-Refugien ins Visier genommen werden, wird es schnell ungerecht: Sie werden dann als Protagonisten einer Machtelite missverstanden, die sie als Einzelkämpfer im Auf und Ab des Kunstbetriebs nun wirklich nicht sind. Kunst entsteht aus Kunst, ist Anverwandlung , Umformung , Neukombination, Gegenentwurf. Kunstwerke sind sehr selten dominante Machtgesten, sondern meist kaum mehr als ein höflicher Vorschlag zur Betrachtung.
Das freie Spiel der Formen und Sujets kennt eine wertvolle, hart errungene Regel: das Urheberrecht. Dabei sollte es bleiben.
PS: Lassen Sie sich durch Nachrichten aus der Verlagsbranche nicht beunruhigen. Ihr Kunstmagazin erscheint weiter in gewohnter Weise, dafür stehe ich – und Ihre ART-Redaktion.