Gesinnungsschnüffelei im documenta-Vorfeld

Gesinnungsschnüffelei im documenta-Vorfeld

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LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

erst im November habe ich an dieser Stelle den transparenten Kommunikationsstil der DOCUMENTA FIFTEEN gefeiert, die schon Monate vorab ihre Künstlerliste veröffentlicht hat. Ob ruangrupa ihre Offenheit schon bereuen? Das Kasseler »Bündnis gegen Antisemitismus« hatte beim Gesinnungsscan der Eingeladenen rasch, doch schwach belegt, Antizionismus und Antisemitismus diagnostiziert. Die Wochenzeitung »Die Zeit« stieg polemisch ein und orakelte vom Ende des »schlingernden Kunstheiligtums«, wenn es sich »nicht überzeugend aus dem Gestrüpp der Israelfeindschaft und des Antisemitismus« befreien würde. Die Debatte nahm fast automatisch die übliche Steilkurve der Erregung, als ob es hier um Straftaten ginge und nicht um das Unterzeichnen diskussionswürdiger Appelle.

Der Kasseler Oberbürgermeister warf sich schützend vor die Kuratoren, die Staatsministerin für Kultur, zum entschlossenen Eingreifen aufgefordert, hielt sich schlau bedeckt, sie hätte beim öffentlichen Spagat zwischen unverhandelbarer Staatsräson und Verteidigung der Kunstfreiheit nur verlieren können. Das indonesische Kuratoren- und Aktivistenteam ruangrupa wurde ausgewählt, um in Kassel die Perspektive des globalen Südens in die transatlantische Kulturdebatte einzubringen. Indonesien ist das größte muslimische Land der Erde, es hat eine vielfältige Geschichte, vorkolonial, kolonial, nachkolonial. Deshalb sollte sich niemand wundern, wenn die nächste documenta Sichtweisen präsentiert, die nicht zu den hier eingeübten Ritualen passen, möglicherweise Tabus verletzen oder zumindest neuralgische Punkte triggern. Geliefert wie bestellt.

Was an dieser Debatte nervt, ist ihre Stasihaftigkeit. Und falsch ist ihr Zeitpunkt. Eine Ausstellung ist das Zusammentreffen von Menschen und Werken an einem Ort zu einem bestimmten Termin. Wenn sich die DOCUMENTA FIFTEEN partout zum Skandal auswachsen will (was ich nicht erwarte), dann hat sie alle Freiheit dazu. Und sie hat auch die Zeit bis zur Eröffnung am 18. Juni, sich zu finden und zu korrigieren. Man soll also bitte bis dahin alle Beteiligten mit Gesinnungsschnüffelei, Ressentiment und Vorverurteilung verschonen.

PS:

Bei dieser Produktion haben mich zwei Geschichten besonders berührt: Faith Ringgold (Seite 44) und Lea und Hans Grundig (Seite 66). Aus Schicksal und Haltung wird große Kunst.