Museen brauchen kein Reinheitsgebot
Museen brauchen kein Reinheitsgebot
TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR
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Zettelkrieg in Manchester: »Hylas und die Nymphen« des Präraffaeliten John William Waterhouse wurde abgehängt -

um stattdessen über das viktorianische Frauenbild zu diskutieren
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
sieben barbusige Nymphen mit wallendem Haar locken den Schönling Hylas in ihren Seerosenteich: Man muss schon recht empfindlich sein, um sich heute noch von dem schwülen präraffaelitischen Traum provozieren zu lassen, den John William Waterhouse 1896 in Öl auf Leinwand bannte. In der MANCHESTER ART GALLERY hat man das Bild auf Anregung der Künstlerin Sonia Boyce zwischenzeitlich abgehängt und an seiner Stelle die Besucher per Klebezettel das viktorianische Frauenbild des Publikumslieblings diskutieren lassen. Das ist die alberne und kindische Spitze der wichtigen und berechtigten #MeToo-Debatte über Sexismus und Machtmissbrauch, die gerade die Museen erfasst. Sie schlagen sich dabei sehr unterschiedlich: Die Hamburger DEICHTORHALLEN haben eine Retrospektive des Modefotografen Bruce Weber wegen unbewiesener Anschuldigungen, er habe Models belästigt, auf unbestimmte Zeit verschoben. In Washington steht der Maler Chuck Close am Pranger – auch er bestreitet den Vorwurf, Modellen zu nahe gekommen zu sein. Die NATIONAL GALLERY of ART hat dennoch seine Ausstellung verschoben. In New York werden Unterschriften gesammelt, um ein angeblich pädophiles Bild von Balthus im METROPOLITAN MUSEUM abzuhängen, was bislang nicht geschehen ist. Die FONDATION BEYELER in Basel/Riehen hält tapfer an der Retrospektive im Herbst fest.
Im Grunde ist die Sache einfach: Für die Rechtsprechung über Personen sind Gerichte zuständig, die Unschuldsvermutung gilt auch für Künstler. Werke selbst tragen nie eine Schuld, sondern erzählen auf vielschichtige, deutungsoffene Weise von vergangenen Zeiten und persönlichen Sichten. Über Jahrhunderte war der Künstler das romantische Gegenmodell zum eingezwängten Normalmenschen, deshalb ist die Kunstgeschichte auch eine Geschichte von Tabubrüchen, die geholfen haben, uns so frei zu machen, wie wir jetzt sind. Dieses Erbe gilt es zu schützen, auch wenn mal ein Shitstorm droht. »Museen sind Orte der Freiheit, der Debatte und des Widerspruchs«, sagt der Frankfurter Museumsdirektor Philipp Demandt im Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, »sie sind weder Konsensmaschinen noch moralische Kläranlagen.« Das ist genau die Haltung, die man sich wünscht!