Auch im Atelier macht die Betrachtung die Kunst

Auch im Atelier macht die Betrachtung die Kunst

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR

chefredaktion@art-magazin.de

  • Wolfgang Tillmans 2016 in seiner Ausstellung in der Berliner Galerie Buchholz
  • Früher dran: Sein erstes Portfolio hat Tillmans bereits 1999 für ART gestaltet. Es ist nun Teil der Schau der Londoner Tate Modern

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

Wolfgang Tillmans ist ein Phänomen. Fotografen, das ist meine Erfahrung, sind in der Regel die prätentiösesten Künstler. Ich vermute, es liegt daran, dass sie ihre Kunst aus etwas machen, das heute eigentlich jeder ein bisschen kann. Das wäre auch die Erklärung dafür, dass Fotografien in Galerien immer größer und die Rahmen immer schwerer werden. Und auch dafür, dass viele Fotografen ihr Konzept oft über Jahrzehnte beibehalten, um nur ja erkennbar zu bleiben. Alles, um den Kunstwert ganz dick zu unterstreichen.

Ganz anders Wolfgang Tillmans: Seit Mitte der neunziger Jahre ist er mit größten Wandlungen immer präsent geblieben. Hat sich von einem Reporter der eigenen Jugendkultur zu einem Künstler entwickelt, der ein großer Romantiker und politischer Aktivist zugleich ist. Seine Ausstellungen haben die Leichtigkeit des Anfangs bewahrt. Fast beiläufig kombiniert er matte Tintenstrahldrucke und hochglänzende Prints, oft ungerahmt mit Stahlstiften an die Wand gepinnt, zu Tableaus voller spielerischer Assoziationen und mit einer immensen Kraft, die aus dem Nebeneinander von Schönem und Drastischem kommt.

Für ART hat er ein großes Portfolio zusammengestellt, das dieses Heft eröffnet. Es zeigt Ansichten seiner diversen Ateliers vom Jugendzimmer in Remscheid über London bis nach Berlin, wo ihn unsere Autorin Ute Thon zum Interview getroffen hat. Aber was ist das Atelier eines Fotografen, der keine Studioaufnahmen macht? Es ist vor allem der Raum, so erklärt er im Gespräch, in dem er begutachtet, was draußen entstanden ist: »Ich gucke hier Bilder an, um zu sehen, ob sie halten.« Von Gerhard Richter ist bekannt, dass er seine fertigen Gemälde in eine Art Kühlkammer bringt, wo er sie von Zeit zu Zeit besucht, um sie zu prüfen. Was nicht standhält, wird entsorgt oder überarbeitet. Ganz ähnlich also läuft es bei Tillmans. Ob ein Bild ein Werk ist, entscheidet letztlich die Betrachtung.

Das halten Sie für prätentiös, dass ein Künstler allein durch Betrachten aus Fotografien Kunst machen kann? Besuchen Sie seine aktuelle Ausstellung in London oder im Sommer in Basel. Sie werden sehen, es funktioniert!

PS: Im Normalfall reden wir ja mit den Künstlern selbst. Aber das Gespräch mit Martin Gayford über David Hockney war mindestens genauso ergiebig. Ab Seite 42