LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
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Von den Segnungen des Marketings
es ist ein Ausstellungstrend, über den man sich herrlich lustig machen könnte: Michelangelo (ohne Michelangelo) in der Bonner BUNDESKUNSTHALLE. Picasso (ohne Picasso) in den HAMBURGER DEICHTORHALLEN. Botticelli-Renaissance (mit wenigen Botticellis und wenig Renaissance) in der Berliner Gemäldegalerie – alles in diesem Jahr. Werden die deutschen Musentempel zu Mogelpackungen? Hält man das Publikum für einen Pawlowschen Hund, der nur auf primitivste Schlüsselreize reagiert? Dürfen wir also demnächst mit Impressionismus-Schauen ohne Impressionisten rechnen? Läuft zeitgenössische Konzeptkunst bald unter dem Label »Blauer Reiter« und junge Druckgrafik unter »Dürer und die Folgen«?
Ganz so schlimm ist es nicht: Was wir beobachten, ist letztlich ein gewitztes Vorgehen, mit dem die Museen ihren hochgesteckten Auftrag und ihren großen Anspruch mit der schnöden Wirklichkeit ehrenrettend in Einklang bringen. Zumindest ab und zu muss eine Großausstellung her, die den Normalbetrieb kofinanziert, das ist längst Konsens in den Ausstellungshäusern. Klar geht es dabei um Marketing. Die Zahl der Themen und Namen, die zuverlässig ziehen, aber ist begrenzt. Insofern stimmt es mit den Schlüsselreizen, sie wurden eingeübt und werden immer wieder aufgefrischt. Und weil das so ist, gibt es gerade da oft nicht mehr viel zu erforschen und Neues zu berichten – zudem sind die Leihgaben schwierig bis unmöglich zu bekommen.
Die Kuratoren reagieren auf dieses Dilemma mit dem Trick, die Wirkungsgeschichte großer Meister in den Blick zu nehmen. Und dagegen ist gar nichts zu sagen, wenn die Ausstellungen gut gemacht sind. In der Erkundung von Zusammenhängen über die Epochen hinweg liegen große Sinnressourcen: Sie führt uns weg von Schubladendenken und Abzählreimen der Kunstgeschichte, kann Sehen lehren und Künstler dem Vergessen entreißen, kann zeitgenössische Werke besser verständlich machen. Und wenn es viele ins Museum lockt, bloß weil ihnen bei Michelangelo, Picasso oder Botticelli der Speichel tropft: Willkommen und guten Appetit!
TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR
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Michelangelo, Botticelli und Picasso als Schlüsselreize: aktuelle Ausstellungsplakate der Bonner Bundeskunsthalle, der Berliner Gemäldegalerie (Simulation) und der Hamburger Deichtorhallen -
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PS: Sehr gelacht habe ich über die Museumsbesucher-Typologie der niederländischen Fotografen Ari Versluis und Ellie Uyttenbroek ab Seite 36. Ich habe meine Eltern entdeckt! Und Sie?