Liebe Leserin, lieber Leser,

Liebe Leserin, lieber Leser,

Tim Sommer, Chefredakteur

vermutlich ist Ihnen unser Titelbild etwas seltsam vorgekommen. Die Mischfarbe Grün war in der kristallklaren Welt des Avantgardisten Piet Mondrian (1872 bis 1944) nicht vorgesehen. Als die kanadische Künstlergruppe General Idea 1994 ihre Serie der „Infizierten Mondrians“ produzierte, war die Epoche der Moderne, die in einem Sturm von Revolutionen alle Werte der Kunst neu definiert hatte, längst selbst zum Material folgender Künstlergenerationen geworden. Der moralische Impetus hatte sich dabei in postmoderner Ironie verflüchtigt: Mondrian malte noch mit missionarischer Begeisterung Bilder für eine bessere Welt, General Idea betreiben ein komplexes Spiel um Aidsdebatte und Wahrnehmungsdiskurs.

Was also bedeutet uns die Moderne heute? Ist sie „unsere Antike“, wie die letzte Documenta fragte? Also ein Mythenreservoir voller Geschichten von Heldentum und Verrat - oder eine verlorene Zeit, als noch Kunst von edler Einfalt und stiller Größe entstand? Ist sie ein Baukasten, aus dem man sich beliebig bedient, um damit neue Entwürfe zu realisieren, wie es die letzte Berlin-Biennale versuchte? Oder sind ihre Werke zum reinen Genussmittel verkommen, zur Kalenderkunst für Weltflüchtlinge, die sich nur an Schönheit berauschen? Oder fasziniert uns doch der utopische Geist, der durch die Kunst des 20. Jahrhunderts weht, allen Kriegen und kruden Ideologien zum Trotz?

Das wollen wir in unserer großen Serie zum 30-jährigen art-Jubiläum in diesem Jahr ergründen. In neun Folgen erzählen wir die Geschichte der Moderne: In diesem Heft die Vorgeschichte bis zum Jahr 1900, dann folgen Jahrzehnt für Jahrzehnt alle wichtigen Hintergründe, Entwicklun gen, Ideen, Daten in einem Kompaktkurs, der bis in die achtziger Jahre die Kunst des 20. Jahrhunderts erklärt. In jeder Folge gibt es zudem eine Reportage, die an einen Brennpunkt der Zeit führt und erkundet, was eigentlich geblieben ist. Was uns die damals so neuen, brisanten, umwälzenden Gedanken noch sagen. Warum plötzlich schön ist, was früher als hässlich und abseitig galt. Warum Utopia früher um die Ecke lag und heute scheinbar unauffindbar ist. Für die Eingangsfolge ist Hans-Joachim Müller nach Paris in das Musée d’ Orsay gereist, wo wie nirgends sonst der Epochenwandel von Historismus und Salonkunst zur Moderne erlebbar wird. Etwas sentimental ist er dabei schon geworden …

Ihr Tim Sommer

  • Postmoderne Ironie befällt den Reinraum der Moderne: „Infected Mondrians“ der kanadischen Künstlergruppe General Idea (1994)
  • Projektionen von Gerwald Rockenschaub am Auepavillon der Documenta 12, 2007 in Kassel; Installation von Thea Djordjadze bei der Berlin-Biennale 2008
  • Ein Zeitreisender, unentschieden zwischen Moderne und der schönen Welt der Pariser Salons: Hans-Joachim Müller beim Ortstermin im Musée d’ Orsay