Liebe Leserin, lieber Leser,

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Tim Sommer, Chefredakteur

in Berlin handeln derzeit zwei Ausstellungen zeitgenössischer Kunst von deutscher Geschichte -und wie nebenbei handeln sie auch vom Geschichtsbild bundesdeutscher Kunstpolitik. Im Hamburger Bahnhof und den angeschlossenen Rieck-Hallen versucht Friedrich Christian Flick, Steuerfuchs und Erbe der Nazi-Rüstungsindustrie, der „dunklen Seite“ seiner Familiengeschichte „eine hellere hinzuzufügen“, indem er leihweise seine Sammlung präsentiert: So alles, was derzeit gut und teuer ist, eben das Ego pflegt und maximalen Prestigegewinn verspricht (siehe Kritik in art 12/2004). Hier wird das Vergessen und Verdrängen zelebriert.

Nur wenige Minuten Fußweg entfernt zeigen die Kunst-Werke ihre RAF-Ausstellung „Zur Vorstellung des Terrors“ (siehe Kritik in dieser Ausgabe auf Seite 86). Sie versammelt all die schweren, die grüblerischen, die banalen, die albernen Werke zum „Deutschen Herbst“ und seinen Folgen. Immerhin: Hier wird gezeigt, wie Künstler die Mythen der jüngsten Geschichte bearbeiten, um ihnen Wahrheiten zu entlocken. Hier werden Fragen gestellt, hier wird erinnert und gedeutet.

Beide Ausstellungen waren im Vorfeld von Debatten begleitet, zu beiden musste die Bundesregierung Stellung beziehen. Geschehen wie folgt: Die Flick-Show hat der Kanzler selbst eröffnet. Eine Kunstausstellung sei, so wiegelte er ab, „nicht geeignet, darüber die deutsche Geschichte zu verhandeln“. Die Realisierung der RAF-Ausstellung hingegen musste privat über eine Auktion bezahlt werden, weil sich der vom Bund getragene Hauptstadtkulturfonds aus der Finanzierung geflüchtet hatte. Der Kanzler hatte seine Kulturstaatsministerin zuvor gebeten, sich das Konzept noch einmal näher anzusehen. Hier schien die Kunst nun doch mit unbequemen Aussagen zu drohen. Christina Weiss stellte inhaltliche Forderungen, denen sich die Ausstellungsmacher um den Preis der Kunstfreiheit nicht beugen konnten.

Das alles ergibt ein seltsames Bild. Kanzler Schröder, der sich in seinen früheren Jahren mit privaten Besuchen bei seinen Lieblingskünstlern Bruno Bruni in Hamburg oder Uwe Bremer im wendländischen Gümse begnügte, hat die Spielklasse gewechselt. Er sucht nun den stärkeren Glanz. Man sah ihn mit einer prallen, weißen Calla in der Hand zur Melodie der Moritat von Mackie Messer der Urne von Helmut Newton folgen. Er überreichte in St. Petersburg „Die Nase“, eine Jörg-Immendorff-Skulptur. Alles gut und schön -aber zu schlicht, und leider oft von unfreiwilliger Komik.

Was in Berlin Kultur ist, wird längst aus dem Kanzleramt mitbestimmt. Nur hier kann die zentrale Kulturpolitik ein Profil gewinnen -und sie sollte es endlich auch wagen. Nur mit einem Engagement gerade für das Schwierige, das Umstrittene, das Riskante kann das gelingen. Des Kanzlers salbungsvolles Lob für Flick im Hamburger Bahnhof war das grundfalsche Signal. Mit einer Kanzlerrede in den Kunst-Werken (und wäre es eine wütende gewesen) aber hätte die Regierung ein Zeichen setzen können, dass ihr an der Auseinandersetzung mit der Geschichte gelegen ist. Rechtzeitig, und nicht wie so oft in Deutschland erst ein halbes Jahrhundert danach.

Ihr Tim Sommer