LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

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Ellbogen und animalische Instinkte in der Videokabine

  • TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de
  • Sie stehen und liegen, sie sitzen und kauern: Besucher in John Akomfrahs Videoinstallation »Vertigo Sea« auf der letzten Venedig-Biennale: Unser großes Akomfrah– Porträt beginnt auf Seite 78

immer wenn man aus den lichten und weiten Ausstellungshallen dieser Welt eintritt in die stockfinsteren Zellen für die Videokunst, beginnt aufs Neue das Abenteuer. Ich gebe es zu: Ich bringe längst automatisch einen Ellbogen als Stoßstange auf Brusthöhe in Stellung, wenn ich in den dunklen Winkelgang einbiege. Wer weiß, vielleicht sind auch Sie und ich schon einmal zusammengeprallt. Der nächste Trick ist, sich ganz vorsichtig dicht an der Wand entlangzudrücken, solange der Adaptionsprozess der Augen läuft und man noch nicht den hier sehr nützlichen animalischen Entfernungssensor reaktiviert hat, der offenkundig immer noch in uns schlummert. Am Rand stehen die anderen Besucher zumindest, statt sich zu bewegen, die unvermeidlichen Kollisionen verlaufen einfach sanfter. Es sei denn, die ermatteten Liebhaber der künstlerischen Finsternis sitzen dort. Achten Sie also auf fremde Hände am Boden. Ich bin schon schmerzhaft getreten worden. Waren Sie das? Als Standardausstattung der Schallschutzkabine hat sich eine Folterbank ohne Lehne etabliert. Kein Wunder also, dass sich jeder irgendwo hinlümmelt. Oft hocken die Menschen sogar mit geschlossenen Augen da und lassen sich von dem monotonen sonoren Singsang des englischen Off-Sprechers einlullen. Ich habe den Verdacht, dass es immer derselbe ist, um überall auf der Welt die gleiche somnambule Stimmung zu erzeugen. Aber egal, wie langweilig oder spannend es gerade ist, jeder kommt und geht, wann er will. Ich schaue immer vorher nach, wie lang der ganze Film ist, bevor ich auf unbestimmte Zeit darin abtauche, damit ich später wenigsten weiß, wie groß der Bruchteil war, den ich gesehen habe. Trotzdem habe ich jedes Mal ein schlechtes Gewissen.

Man nimmt das alles so hin, weil es sich eben so eingebürgert hat. Unser Autor Michael Kohler ist aus Anlass der Berlinale diesen und anderen Phänomenen endlich auf den Grund gegangen. 8 ½ Missverständnisse der Kunstwelt über den Film hat er ausgemacht. Mir hat seine Grundlagenforschung die Augen geöffnet. Siehe Seite 34, viel Vergnügen!

PS: Zur ART COLOGNE werden wir im Auktionshaus VAN HAM zum ersten Mal den ART -Kuratorenpreis verleihen. Unseren Jahresrückblick mit den Nominierten finden Sie in diesem Heft