Betrachtung ist eine Frage der Distanz

Betrachtung ist eine Frage der Distanz

Tim Sommer, Chefredakteur chefredaktion@art-magazin.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielleicht sind uns die Maler der Moderne ja inzwischen ein wenig zu nahe gerückt. Viele begreifen sie und nicht die lebenden Künstler als unsere wahren ästhetischen Zeitgenossen. Gleichzeitig sind sie uns fern geworden, durch die Litanei der Heldengeschichten, die unentwegt über die Avantgarde erzählt wurden, um sie abzugrenzen von der Kunst der Salons und Akademien. Wie falsch beides ist, zeigt der Blick auf ihre Lebenswege in und durch den Ersten Weltkrieg, die wir ab Seite 20 in einem internationalen Panorama der Erfahrungen montieren.

Kein Ereignis eignet sich besser als diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, um die Distanz zur Moderne wieder neu zu kalibrieren und die Künstler als Menschen ihrer Zeit zu begreifen. Künstler sind nicht die besseren Menschen, oft auch nicht die klügeren. Etwa Franz Marc, dessen Tierbilder als Inbegriff der friedlichen Naturverbundenheit gelten. Er, vor dem Krieg eingebunden in die internationale Gruppe „Blauer Reiter“, zog begeistert in die Schlacht und empfand sie als „völkergemeinschaftliches Blutopfer“. „Dieser Großkrieg“, schrieb er, „ist ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes.“ Diese Sicht, so befremdlich sie uns scheint, ist für ihre Zeit nicht sonderlich originell – sie entspricht einer weitverbreiteten Reinigungsidee auf dem Weg zum „Neuen Menschen“.

Was verblüffend und bis heute rätselhaft bleibt, ist die Passgenauigkeit der vor und im Krieg entwickelten Formsprachen zum Erlebnis dieses Desasters. Kein Krieg vorher und keiner danach wurde von Künstlern so prägnant verarbeitet und adäquat dargestellt wie dieser. Waren vorher die heroischen Formeln im Weg, versagten nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs vollends die Mittel. Erst nach Jahrzehnten gelang Künstlern wie Peter Eisenman wieder der Zugriff auf das Unsagbare – allerdings in abstrakter, höchst distanzierter Form.

  • Eine Form für das Grauen finden: Triptychon „Der Krieg“ von Otto Dix, gemalt 1929 bis 1932, Peter Eisenmans Holocaust- Mahnmal in Berlin, fertiggestellt 2005